Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
die Gangway zu, als ich spürte, daß jemand an meinem Ärmel zupfte.
Es war Clara Spenser, und hinter ihr stand ihre Schwester Melanie. Ihre Eltern folgten ihnen, und alle drängten sich dicht zusammen und waren so lieb zueinander. Die Hand der Mutter lag auf Claras Schulter, die Hand des Vaters auf Melanies.
»Auf Wiedersehen, Leigh«, sagte Clara. »Wir werden dir schreiben.«
»Auf Wiedersehen. Ich schreibe auch«, rief ich und wandte mich ab. Ich wollte vor ihnen davonlaufen.
»Leigh!« rief Clara hinter mir her. »Es hat ja Spaß gemacht, aber ist es nicht wunderbar, wieder zu Hause zu sein?«
Ich winkte nur und lief so schnell wie möglich auf den Wagen zu. Mein Gepäck war schon eingeladen worden.
»Ist alles in Ordnung mit meiner Mutter?« fragte ich. Vielleicht war sie so bestürzt über das, was sie angerichtet hatte, daß sie krank zu Hause im Bett lag.
»O ja. Sie hat mich heute morgen angerufen, und es klang ganz so, als ginge es ihr gut. Du kannst von Glück sagen, daß du nicht hier warst; in der letzten Woche ist es hier schrecklich kalt gewesen. War es denn schön?« fragte er, als ich nichts darauf erwiderte.
»Ja«, sagte ich und drehte mich um, als wir losfuhren. Ich konnte Daddy sehen, der auf der Brücke stand und mit Captain Wilshaw redete, doch mitten im Satz unterbrach er sich und schaute in meine Richtung. Ich winkte ihm durchs Fenster. Er hob langsam die Hand und hielt sie hoch wie eine Fahne, mit der er kapitulierte und sich geschlagen gab.
Clarence kam aus dem Haus, um mich zu begrüßen und mein Gepäck zu holen, sobald wir vor dem Haus vorfuhren, doch von Mama war nirgends etwas zu sehen. Ich stürzte ins Haus und rief nach ihr, schrie nach ihr.
»Mama! Mama! Wo bist du?«
Clarence kam mit meinem Gepäck hinter mir her.
»Mrs. van Voreen ist heute morgen an die Küste gefahren«, sagte er. »Sie ist noch nicht zurückgekommen.«
»Was? An die Küste? Aber… wußte sie denn nicht, daß ich heute vormittag ankomme?« schrie ich ihn an. Clarence schien die Heftigkeit, mit der ich Antworten auf meine Fragen verlangte, zu erschüttern.
»Ich bringe jetzt Ihr Gepäck auf Ihr Zimmer, Miß Leigh.« Er stieg die Stufen hinauf. Einen Moment lang blieb ich verwirrt stehen. Mein Blick fiel auf die Tür zu Daddys Büro. Jetzt wird er es nicht mehr benutzen, dachte ich, und Tränen stiegen in meine Augen. Was würde Mama jetzt tun – es einfach absperren? Ich wußte, daß sie diesen Raum haßte.
Aber für mich war er plötzlich so ehrfurchtgebietend wie eine Kirche. Ich trat ein und sah mir Daddys Sachen an. Ich atmete die Gerüche ein – das Aroma seines Tabaks hing noch in der Luft, aber auch der Geruch nach Treibholz und alten Möbelstücken. Hier war zwar vieles abgenutzt, aber ich fand alles schön, weil es mit Daddy zu tun hatte.
Vor meinen Augen konnte ich ihn über den Schreibtisch gebeugt dasitzen sehen, und die dünne Rauchsäule stieg aus dem geschnitzten Pfeifenkopf auf, der ersten Pfeife, die sein Vater ihm geschenkt hatte. Auf der vorderen rechten Ecke seines Schreibtischs stand ein Modell der Jillian. Er war so stolz auf sie gewesen, daß er sie nach Mama benannt hatte. Der Rest seines Schreibtischs wirkte so vollgepackt und unaufgeräumt wie sonst. Dieser Anblick munterte mich auf, denn das hieß, daß er bald zurückkommen mußte, um seine wichtigsten Papiere zu holen.
Ich trat in den Gang hinaus und stieg langsam die Treppe hinauf. Clarence kam gerade die Stufen herunter. Er schien es eilig zu haben, mir zu entkommen.
»Es ist alles in Ihrem Zimmer, Miß Leigh.«
»Danke, Clarence. – Ach, Clarence«, rief ich ihm nach, als er schon an mir vorbeigegangen war.
»Ja?«
»Hat meine Mutter irgend etwas hinterlassen, wann sie zurückkommt?«
»Nein.«
»Danke, Clarence.« Ich stieg weiter nach oben und ging in mein Zimmer.
Wie anders meine Welt sich mir jetzt doch darstellte. Ich hatte es so eilig gehabt, wieder nach Hause zu kommen, wieder in meinem eigenen geliebten Zimmer zu sein und in meinem eigenen Bett zu schlafen und die Stofftiere im Arm zu halten, die mir im Lauf der Jahre geschenkt worden waren. Ich hatte mich darauf gefreut, meine Freundinnen anzurufen und in Erfahrung zu bringen, was ich alles verpaßt hatte, während ich fort war. Ich hatte ihnen von Fulton und Raymond erzählen wollen, von den Veranstaltungen und den Bällen an Bord, aber auch, daß mich ein Junge geküßt hatte und daß beide ihre Adressen mit mir ausgetauscht hatten. Aber
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