Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
nichts von alldem zählte jetzt; nichts war mehr von Bedeutung.
Es kam mir vor, als sei ich hypnotisiert worden. Mechanisch packte ich meine Sachen aus und sortierte meine Kleider in solche, die gereinigt und gewaschen werden mußten, und die, die ganz frisch waren. Dann setzte ich mich benommen auf mein Bett. Endlich stand ich aus reiner Neugier und Langeweile auf und ging in Mamas Suite.
Auf ihrem großen Frisiertisch standen Unmengen von Cremes und Schminksachen, und ihre Kämme und Bürsten lagen dort.
Und das Hochzeitsfoto, auf dem sie und Daddy zu sehen waren, hatte sie nicht weggeräumt! Sie waren beide noch da, in diesen stabilen Goldrahmen eingefaßt, und beide sahen jung und glücklich aus. Mama war so schön, und Daddy sah so gut und elegant aus.
Das Wort »Scheidung« hatte einen ganz geheimnisvollen Klang für mich. Ich hatte mir irgendwie vorgestellt, da Mama jetzt von Daddy geschieden war, sei das Haus selbst irgendwie anders.
Ich wollte Mamas Suite gerade wieder verlassen, als ich im Wohnzimmer stehenblieb, weil irgend etwas auf Mamas Schreibtisch mir ins Auge fiel. Es sah aus wie ein Stapel Bücher, in denen Muster von einer Druckerei verschickt wurden. Wir hatten in absehbarer Zeit nichts zu feiern, niemand hatte Geburtstag, und mit Sicherheit gab es keine Jahrestage wie den Hochzeitstag meiner Eltern zu feiern. Was tat Mama hier: Hatte sie etwa vor, ihre Scheidung allgemein bekanntzugeben? Ich trat an den Schreibtisch und schlug den ersten Musterkatalog auf.
Im ersten Moment konnte ich mir keinen Reim darauf machen, doch mein Herz verstand schneller als meine Gedanken, denn es fing an, so heftig zu schlagen, daß mir der Atem stockte. Mein Herzschlag dröhnte wie Donner durch meinen Verstand. Ich blätterte die Kataloge einzeln durch. In allen war ausnahmslos das gleiche.
Es waren samt und sonders Muster für Einladungen zu einer Hochzeit!
6. K APITEL
E INE NEUE BESTE F REUNDIN
Es dauerte noch Stunden, bis Mama nach Hause kam. Ich ging in mein Zimmer und wartete und wartete, bis ich sie ins Haus kommen hörte. Ihr Lachen kam ihren Schritten auf der Treppe vorausgeeilt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie so fröhlich und guter Dinge sein konnte. Unsere Welt zerbröckelte, und ihre Stimme sprudelte so heiter und musikalisch, als sei heute Weihnachten oder ihr Geburtstag. Ich kam in dem Moment aus meinem Zimmer, in dem sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatte.
Sie war so schön wie eh und je, wenn ihre Schönheit nicht sogar noch strahlender geworden war, seit sie Daddy und mich verlassen hatte. Sie wirkte angeregt, belebt und voller Energie, und ihre Augen strahlten. Ihr zartes goldenes Haar glänzte seidig unter der weißen Fellmütze. Sie trug ihren weißen Nerz, den Daddy aus Rußland hatte importieren lassen. Ihre Wangen waren so rosig, als hätte die kühle Novemberluft sie gestreichelt. Erst jetzt wurde mir klar, wie sehr ich mir gewünscht hatte, sie kränklich und bleich vorzufinden.
Ihre überschäumende Lebensfreude und ihr strahlendes Aussehen verschlugen mir die Sprache. Nein, Mamas Gesicht war nicht ausgezehrt, ihre Augen waren nicht blutunterlaufen und verweint, sondern sie wirkte viel eher wie jemand, der aus einem dunklen und grausigen Burgverlies befreit worden ist. Sie legte das Erstaunen und die Traurigkeit auf meinem Gesicht vollkommen falsch aus.
»O Leigh, es tut mir leid, daß ich nicht da war, als du gekommen bist, aber der Verkehr war einfach unglaublich.« Sie lächelte, als erwartete sie, daß ich alles Schreckliche, was geschehen war, auf der Stelle vergaß.
»Warum bist du nicht zum Hafen gekommen? Wo warst du?«
»Wo ich war? Ich war auf Farthy«, trällerte sie und ging auf ihre Suite zu. »Du weißt ja, wie unvorhersehbar die Anlegezeiten sind… eine halbe Stunde Verspätung, eine ganze Stunde Verspätung. Es war mir unmöglich, in diesem stickigen Automobil festzusitzen und zu warten.« Sie drehte sich noch einmal kurz um, um mich anzulächeln. »Ich dachte, dir macht das doch sicher nichts aus, und an der Küste war es heute viel angenehmer«, sagte sie, als sie ihre Mütze absetzte und ihren Mantel auszog. »Dort ist ganz blauer Himmel«, fügte sie noch hinzu und warf ihren Mantel über einen der Rokokostühle. »Aber mir kommt der Himmel dort immer blau vor, selbst dann, wenn er grau ist«, flüsterte sie, und sie ließ die Worte wie den Text eines Liebesliedes klingen.
Dann ließ sie sich auf ihr Bett fallen,
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