Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
begann, die Pläne für ihre Hochzeit näher auszuführen. Ich stand langsam von der Bank auf und hatte wahrscheinlich Ähnlichkeit mit einer Schlafwandlerin, als ich die Treppe hinaufstieg, immer noch mit vor der Brust verschränkten Armen.
Darüber konnte ich mit Daddy niemals reden, dachte ich. Ich würde ihm niemals das Herz brechen, und mir war ganz gleich, was die Wahrheit war und was nicht – in meinen Gedanken und in meinem Herzen würde er immer mein Daddy bleiben. Aber Mama – all diese Lügen, all diese erfundenen Geschichten. Es war, als platzten um mich herum Seifenblasen, als zersplitterten Lichter, als sinke Nebel herunter, und meine ganze Welt brach in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Wie Großmama Jana gesagt hatte; ein Leben aus lauter Lügen.
Und Mama lebte die größte Lüge von allen. Ihr Rat stieß mir wie saure Milch auf. Ich konnte ihr Gesicht noch vor mir sehen, als sie es gesagt hatte, und sie hatte die Maske der Aufrichtigkeit getragen, die Maske geheuchelter Aufrichtigkeit.
»Merk dir eins, Leigh: Anständige Mädchen kennen ihre Grenzen. Sie machen nicht alles mit, jedenfalls nicht, solange sie nicht verheiratet sind. Versprich mir, daß du das nicht vergessen wirst.«
Ich werde es nicht vergessen, Mama.
Ich drehte mich auf dem oberen Treppenabsatz um. Ich hätte es am liebsten laut herausgeschrien, ihr zu verstehen gegeben, daß ich alles mitangehört hatte.
9. K APITEL
B RAUTMARSCH
Mama erfuhr nicht von mir, daß ich das Gespräch belauscht hatte, doch jedesmal, wenn ich sie jetzt ansah, sah ich nicht mehr meine Mutter in ihr. Es war fast so, als sei meine echte Mama fortgegangen und hätte dieses Ebenbild zurückgelassen, diese Frau, die Mamas Haar und Mamas Augen und Mamas wundervolle Haut hatte, aber innerlich hohl war.
Die meiste Zeit verging ohnehin damit, die letzten Einzelheiten der Hochzeit zu besprechen. Das war eigentlich alles, worüber wir redeten. Großmama Jana wurde in die Gespräche mit einbezogen, weil Mama so klug war, sie in diesem oder jenem Punkt nach ihrer Meinung zu fragen. Und dann ließ Großmama Jana sich von Farthy mit seinen Zauberkräften und seinem mystischen Schleier überwältigen. Wenn es ihr auch noch so wenig paßte, daß Mama Daddy verlassen hatte und einen soviel jüngeren Mann heiratete, war Großmama Jana doch beeindruckt. Die Weitläufigkeit und die Pracht von Farthinggale Manor verschlugen ihr den Atem. Als wir durch die Tore fuhren, stand ein Ausdruck des Erstaunens auf ihrem Gesicht, und sie fragte sich laut, wie auch ich mich gefragt hatte, wie es kommen konnte, daß einem einzelnen Menschen so viel gehörte.
Auch Tony bezauberte sie, denn er behandelte sie wie eine Königin. Wenn er einen roten Teppich gehabt hätte, den er über dem Schnee auf der Treppe hätte ausrollen können, dann hätte er es getan. Er legte ihre linke Hand auf seinen rechten Arm und führte sie durch die langen Hallen, erklärte ihr, wer auf den einzelnen Porträts seiner Ahnen abgebildet war, und verbrachte einen großen Teil seiner Zeit damit, seine Geschichte aufzurollen und über seine Eltern und Großeltern zu reden.
Beim Mittagessen sorgte er dafür, daß die Kellner und Kellnerinnen wie Kolibris um sie herumflatterten. Sie konnte keinen Löffel heben oder nach einer Beilage greifen, ohne daß ihr einer der Dienstboten zuvorkam und ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Und währenddessen hielt sich Mama mit ihrem Mona-Lisa-Lächeln dezent im Hintergrund. Die Einwände und Widerstände, mit denen Großmama gekommen war, fielen von ihr ab. Nachdem ich gesehen hatte, wie Tony Tatterton sie verhätschelte, ihr schmeichelte und sie mit seinen Manieren, seinem guten Aussehen und seinem Reichtum bezauberte, verstand ich, warum ein solcher Mann das Herz jeder Frau gewinnen konnte und erst recht das einer Frau wie Mama.
»Ich wußte, daß Tony sie zähmen würde«, flüsterte mir Mama ins Ohr, als wir Farthy zum vermutlich letzten Mal verließen, denn morgen sollte die Hochzeit stattfinden, und wenn ich dorthin zurückkam, dann war es für immer. Am Abend, direkt vor dem Schlafengehen, packte ich all meine Fotografien und kostbaren Erinnerungsstücke ein.
Am Morgen herrschte großer Trubel im Haus. Mama flog wie eine Biene in einem Feld von wildgewachsenen Blumen von einem Zimmer ins andere. Sie war so aufgeregt und hektisch, daß sie in Panik geriet und mich bat, das Problem selbst zu lösen, wenn ich ihr auch nur die einfachste Frage
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