Cataneo - Der Weg Splendors (German Edition)
als ein Buch je vermitteln könnte. Denn Erinnerungen bestanden nicht aus Zeilen, sondern aus Gefühlen und Bildern. Sie würden niemals einstauben und man nahm sie mit sich, bis in den Tod und darüber hinaus.
»Welchen Weg könnten wir jetzt noch gehen? Ein Schritt nach vorn würde das Ende unseres Volkes bedeuten. Der Schritt zurück würde uns vielleicht retten, aber wir würden uns nie verzeihen können, aufgegeben zu haben. Bleibt nur der Stillstand. Das Abwarten. Bis zu dem Augenblick, an dem die Götter uns den Weg aufzeigen.« Seine Worte schmeckten bitter für den Ältesten und seine Mitbrüder, das wusste der oberste Obscura. Er wünschte sich, dass er den Fremden frohere Kunde geben könnte. Sie waren voller Hoffnung zu ihm gekommen und nun entriss er ihnen diese. Zumindest mussten sich diese Sätze für sie so angefühlt haben.
»Abwarten?«, fragte der Oberste aus Zitelia. Seine Augen flammten vor Enttäuschung auf. »Worauf wollen wir warten? Glaubt Ihr, Vell wird auf diese Welt zurückkehren? Oder gar ein anderer der Götter? Meint Ihr, sie haben die Zeit, uns ein Zeichen zu senden, wenn sie all die Toten empfangen werden? Wir sehen nicht einfach zu!«, fuhr er Bricas’ obersten Obscura an. »Wir stehen nicht wie Schaulustige um das Schlachtfeld herum! Soweit werden wir es niemals kommen lassen.«
»Sollen wir etwa in den Tod rennen?«, entgegnete der andere, dem es nicht schmeckte, wie aufbrausend sein Gegenüber wurde. »Ist es das, was Ihr verlangt?! Seid Ihr deshalb hergekommen?«
Der Älteste schüttelte den Kopf und begann zugleich furchtbar zu husten. Er griff sich an die Brust. Im selben Augenblick stürmten auch schon zwei seiner Anhänger zu ihm. Doch er streckte ihnen die andere Hand entgegen und brüllte: »Nein!« Sie blieben erschrocken stehen. Ihr Oberster ging, noch immer keuchend und hustend, auf den Obscura des anderen Ordens zu. »Wir sind gekommen, um die Kinder Splendors zu sprechen. Wir sind gekommen, um ihnen unsere Hilfe anzubieten. Selbst wenn wir nicht kämpfen können, wissen wir weit mehr über ihre Feinde als sie.«
»Unser Wissen? Ihr bietet ihnen unsere staubigen Bücher an und bittet sie um ihre Klingen?«, fragte Bricas Oberster mit sarkastischem Unterton in der Stimme.
»Ihr seid mein Bruder«, sprach der Älteste. »Ich bitte euch ebenso.«
»Worum bittet Ihr mich?«
»Sprecht mit den Engeln und geleitet unsere Brüder auf das Schlachtfeld. Teilt Euer Wissen und steht allen Kämpfenden bei. Gebt dieses Land nicht auf.« Seine Stimme wurde zittriger.
»Ihr fürchtet, nicht dabei zu sein? Ist es das, was Euch erzürnt?«
Der Älteste nickte.
»Die meisten fürchten sich eher davor, dies miterleben zu müssen. Ihr seid sehr stark«, sprach der oberste Priester Bricas Terpos und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Sprecht am besten selbst mit ihnen. Ich vereinbare ein Treffen mit ihrer führenden Kraft. Doch ich warne Euch. Sie ist zauberhaft. Das ist gefährlicher, als es den Anschein hat.«
»Ich danke Euch. Mehr als diese Hilfe will ich auch nicht verlangen.«
Der Älteste und seine Anhänger zogen sich zum Gebet zurück. Auf dem Weg zu den Gebetshallen wandte sich einer der jüngeren Obscuras an den Ältesten. »Verzeiht«, sagte er mit leiser Stimme, »aber bitte erklärt mir eines: Warum hat uns der Oberste von Bricas Terpo vor den Kinder Splendors gewarnt?«
Der Älteste lächelte bitter. »Die Kinder Splendors sprechen eine alte Sprache. Nur wenige können diese verstehen. Ihre Stimmen sind sanft und der Klang bei jedem Wort, das sie aussprechen, ist äußerst verführerisch. Man sagt, sie sprechen direkt zu unserer Seele. Sie schalten deine Gedanken aus und hüllen dich in vollkommene Liebe. Ein Zustand, der sich wohltuend anfühlt, dich allerdings gefügig macht. Man ist dann nicht mehr Herr über den eigenen Körper. Sie führen dich. Sie sind engelsgleiche Wesen, doch auch in ihnen steckt nicht nur Glückseligkeit und Frieden. Die Kinder Splendors wurden geschaffen, um diese Welt im Lichte zu halten. Mit allen Mitteln. Dabei opfern sie andere, wenn es sein muss, denn sie werden von dem Wunsch nach Sieg gesteuert. So schön sie auch sind, darf man nie vergessen, dass es sich um ebenso gierige Kreaturen wie die Dämonen handelt. Sie kämpfen um eine Welt, auf der sie nie wirklich gelebt haben. Ein Ort, von dem sie kaum eine Vorstellung hatten. Zu schwach sind die Erinnerungen von ihrem letzten Aufenthalt hier. Wie ein Schleier, der über
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