Catch 22
mit größter Vorsicht und Behutsamkeit zentimeterweise auf den Ast hinaufzukriechen. Sein Gesicht war starr vor Spannung, und er seufzte erleichtert, als er endlich sicher neben Yossarián saß. Er streichelte den Baum zärtlich. »Ein sehr ordentlicher Baum«, bemerkte er bewundernd und mit der Dankbarkeit des Eigentümers.
»Es ist der Baum des Lebens«, antwortete Yossarián und bewegte die Zehen, »und auch der Erkenntnis von Gut und Böse.«
Milo betrachtete eingehend Rinde und Äste. »Nein, das ist er nicht«, sagte er dann. »Es ist ein Kastanienbaum. Ich muß es schließlich wissen, denn ich handele mit Kastanien.«
»Wie du meinst.«
Sie saßen ein Weilchen schweigend im Geäst, ließen die Beine baumeln und hielten sich mit den Armen an einem höher wachsenden Zweig fest, der eine, abgesehen von seinen Sandalen, völlig nackt, der andere vorschriftsmäßig bis auf den Schlips in die grobe, olivfarbene Uniform gekleidet. Milo beobachtete Yossarián schüchtern aus dem Augenwinkel und zögerte taktvoll.
Schließlich sagte er: »Ich möchte dich was fragen. Du hast nichts an. Ich will ja nicht aufdringlich sein, aber ich möchte doch gerne wissen, warum du keine Uniform trägst?«
»Ich will nicht.«
Milo nickte hastig wie ein pickender Spatz. »Aha, aha«, sagte er schnell und äußerst ratlos. »Ich verstehe genau. Ich hörte Appleby und Captain Black sagen, du seist verrückt geworden, und wollte mich selbst überzeugen.« Wieder zögerte er höflich und erwog seine nächste Frage. »Willst du nie wieder Uniform tragen?«
»Ich glaube nicht.«
Milo nickte mit gespieltem Nachdruck, um anzudeuten, daß er wiederum begreife. Dann verstummte er. Er grübelte ausdauernd, beunruhigt und furchtsam. Unter ihnen flitzte ein rotbrüstiger Vogel vorüber und streifte mit sicherer, dunkler Schwinge zitterndes Gebüsch. Yossarián und Milo waren in ihrem Nest von hauchdünnem, hängendem Grün verborgen und fast ganz von anderen grauen Kastanien und einer Blautanne umgeben.
Die Sonne stand hoch in einem endlosen, saphirblauen Himmel, an dessen unterem Rande vereinzelt und gebauscht trockene, reinweiße Wölkchen hafteten. Es ging kein Wind, und die sie umgebenden Blätter hingen reglos. Der Schatten war wie eine große Feder, und alles schien zu ruhen, nur Milo nicht, der sich plötzlich mit einem unterdrückten Schrei aufrichtete und aufgeregt mit dem Finger deutete.
»Sieh doch nur!« rief er beängstigt. »Sieh doch nur! Das ist ja ein Begräbnis. Das sieht ja aus wie der Friedhof. Ist er das etwa?«
Yossarián antwortete langsam und tonlos. »Sie begraben den Jungen, der kürzlich über Avignon in meiner Maschine verwundet worden ist. Snowden.«
»Was war denn mit ihm?« fragte Milo dumpf und ehrfürchtig.
»Erwischt hat es ihn.«
»Das ist ja entsetzlich«, klagte Milo, und seine großen braunen Augen füllten sich mit Tränen. »Der arme Junge. Es ist wirklich schrecklich.« Er biß sich in die zitternde Unterlippe, und seine Stimme bebte vor Rührung, als er fortfuhr: »Und es wird noch schlimmer werden, wenn die Messen nicht meine Baumwolle kaufen. Was ist nur los, mit den Menschen, Yossarián? Begreifen sie denn nicht, daß es ihr eigenes Syndikat ist? Begreifen sie nicht, daß sie alle einen Anteil haben?«
»Hatte der tote Mann in meinem Zelt auch einen Anteil?« wollte Yossarián wissen.
»Selbstverständlich«, versicherte Milo großmütig. »Jeder im Geschwader hat einen Anteil.«
»Er starb aber, ehe er sich als zum Geschwader versetzt melden konnte.«
Milo verzog angewidert das Gesicht und wandte sich ab. »Wenn du mich nur endlich mit dem toten Mann in deinem Zelt in Ruhe lassen wolltest!« verlangte er gekränkt. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich mit seinem Tod nichts zu schaffen habe. Ist es vielleicht meine Schuld, daß ich die günstige Gelegenheit mit der ägyptischen Baumwollernte wahrgenommen und uns alle in diese Klemme gebracht habe? Woher hätte ich wissen sollen, daß der Markt so verstopft sein würde? Ich ahnte damals überhaupt nicht, was eine Übersättigung des Marktes ist. Die Gelegenheit, eine Ware aufkaufen und den Preis bestimmen zu können, bietet sich nur selten, und es war sehr schlag von mir, sie zu erkennen und zuzugreifen.« Milo unterdrückte ein Stöhnen als er sah, wie die sechs uniformierten Sargträger den schmucklosen Fichtensarg aus der Ambulanz hoben und sanft neben dem gähnenden, frisch ausgehobenen Grab absetzten. »Und jetzt kann ich auch
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