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Catch 22

Catch 22

Titel: Catch 22 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Heller
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zweimal wöchentlich schrieb er ihr sorglose, kurze Briefe. Dabei hätte er am liebsten den ganzen Tag über drängende Liebesbriefe geschrieben und endlose Seiten mit verzweifelten, ungehemmten Geständnissen seiner demütigen Verehrung, seinem Verlangen und mit ausführlichen Anweisungen über die Anwendung künstlicher Atmung gefüllt. Er hätte ihr gerne in einem Erguß von Selbstmitleid seine unerträgliche Einsamkeit und seine Not geschildert, sie davor gewarnt, jemals Borsäure oder Aspirintabletten in Reichweite der Kinder liegen zu lassen oder bei rotem Licht über die Straße zu gehen. Er wollte ihr keinen Kummer machen. Die Frau des Kaplans war hellsichtig, gütig und teilnahmsvoll. Unvermeidlich endeten seine Träume von einer Vereinigung mit ihr in der detaillierten Ausmalung des Liebesaktes.
    Der Kaplan empfand sich nie so als Scharlatan wie bei Begräbnissen, und es hätte ihn nicht gewundert zu erfahren, daß die Erscheinung in jenem Baum eine Manifestation des göttlichen Zornes angesichts des lästerlichen Hochmutes war, den die Ausübung seines Amtes bekundete. Kummer zu simulieren und übermenschliche Kenntnisse vom Jenseits vorzugeben, noch dazu anläßlich eines so furchterregenden und geheimnisvollen Phänomens, wie der Tod es war, erschien ihm als das verwerflichste aller Vergehen, Er erinnerte sich des Auftritts beim Friedhof genau — war jedenfalls überzeugt, sich genau zu erinnern. Er sah immer noch rechts und links von sich Major Major und Major Danby wie geborstene steinerne Säulen stehen, sah fast genau die Anzahl der Mannschaften und fast genau ihren Standort vor sich, sah die vier unbeweglichen Männer mit Spaten, den abstoßenden Sarg, den großen, lockeren, triumphierenden Haufen aus rotbrauner Erde und den mächtigen, reglosen, flachen, schallschluckenden Himmel, der in seiner gespenstischen Reinheit und Bläue geradezu giftig wirkte. Dies alles würde er sein Leben lang nicht vergessen, denn es war Teil des ungewöhnlichsten Ereignisses, das ihm je zugestoßen war, eines Ereignisses, das vielleicht wundervoll, vielleicht pathologisch war: die Erscheinung des nackten Mannes im Baum. Wie sollte er das erklären? Es war nicht etwas schon gesehenes, oder nie gesehenes, und nichts beinahe gesehenes. Weder deja vu, noch jamais vu, noch presque vu waren elastisch genug, um darauf angewendet werden zu können. War es also ein Geist? Vielleicht die Seele des Verstorbenen? Ein himmlischer Engel oder eine höllische Kreatur? Oder war der ganze phantastische Auftritt nichts als die Ausgeburt einer, nämlich seiner, kranken Phantasie, das Produkt nachlassender Verstandeskraft, eines faulenden Hirns? Der Gedanke, daß wirklich ein nackter Mann im Baum gesessen haben könnte — genau genommen zwei Männer, denn dem ersten hatte sich kurz darauf ein zweiter, mit braunem Schnurrbart und in unheimlich dunkle Gewänder gehüllt, zugesellt, der sich feierlich auf dem Ast verneigte, um dem ersten Mann einen Trunk aus braunem Kelch zu offerieren — dieser Gedanke kam dem Kaplan gar nicht.
    Der Kaplan war ein von ehrlicher Hilfsbereitschaft erfüllter Mensch und stets außerstande gewesen, jemandem zu helfen, auch nicht Yossarián, nachdem er endlich beschlossen hatte, den Stier bei den Hörnern zu packen und insgeheim einen Besuch bei Major Major zu machen, um festzustellen, ob es, wie Yossarián behauptete, zutraf, daß Colonel Cathcarts Geschwader gezwungen wurde, mehr Feindflüge zu unternehmen als andere Geschwader. Es war dies ein kühnes, impulsives Vorhaben, zu dem sich der Kaplan erst entschloß, als er wiederum mit Korporal Whitcomb gestritten und sein freudloses, aus Schokolade bestehendes Mahl mit lauwarmem Wasser heruntergespült hatte. Er machte sich zu Fuß auf den Weg zu Major Major, um nicht von Korporal Whitcomb beobachtet zu werden. Er stahl sich geräuschlos in den Wald, bis er die beiden Zelte auf der Lichtung hinter sich hatte, dann ließ er sich in den verlassenen Einschnitt der Eisenbahntrasse fallen, wo man leichter vorwärts kam. Er strebte eilig über die alten hölzernen Schwellen voran, und dabei steigerten sich seine Aufsässigkeit und sein Zorn. Er war am gleichen Morgen nacheinander von Colonel Cathcart, Colonel Korn und Korporal Whitcomb erniedrigt und gedemütigt worden. Er mußte sich jetzt unter allen Umständen beweisen, daß er etwas galt. Seine schmale Brust hob und senkte sich keuchend. Er ging so schnell er konnte, ohne in Laufschritt zu fallen, denn er

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