Catch 22
Briefen zu streichen, als der Kaplan sich auf dem Stuhl zwischen den Betten niederließ und ihn fragte, wie es ihm gehe. Er saß etwas seitlich, und Yossarián konnte auf seinem Hemdkragen nichts weiter als das Rangabzeichen eines Captains erkennen. Yossarián ahnte nicht, wer sein Besucher war, und nahm ganz einfach an, daß es sich entweder um einen weiteren Arzt oder einen weiteren Verrückten handeln müsse.
»Oh, ganz gut«, erwiderte er. »Ich habe noch Schmerzen in der Leber, und meine Verdauung ist wohl nicht die beste, aber ganz allgemein muß ich doch zugeben, daß ich mich recht wohl fühle.«
»Das ist ja schön«, sagte der Kaplan.
»Ja«, sagte Yossarián. »Ja, das ist schön.«
»Ich hatte eigentlich schon früher kommen wollen«, bemerkte der Kaplan, »aber es ist mir nicht besonders gut gegangen.«
»Das tut mir leid«, sagte Yossarián.
»Nur eine Erkältung«, erläuterte der Kaplan hastig.
»Ich habe 37,8«, sagte Yossarián ebenso hastig.
»Das ist aber unangenehm«, sagte der Kaplan. Der Kaplan rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Kann ich Ihnen einen Gefallen tun?« fragte er nach einer Weile.
»Nein, nein«, seufzte Yossarián. »Die Ärzte tun wohl, was menschenmöglich ist.«
»Nein, nein«, berichtigte der Kaplan und errötete dabei ein wenig, »so meinte ich es nicht. Ich dachte an Zigaretten . . . oder Bücher . . . oder . . . Spielzeug.«
»Nein, nein«, wehrte Yossarián ab. »Vielen Dank. Ich habe alles, was ich brauche — alles außer der Gesundheit.«
Sehr bedauerlich.«
»Ja«, sagte Yossarián. »Ja, das ist sehr bedauerlich.«
Der Kaplan wurde wieder unruhig. Er sah mehrmals nach links und rechts, dann zur Decke, dann auf den Fußboden. Er holte tief Luft.
»Leutnant Nately läßt grüßen«, sagte er.
Yossarián bedauerte zu hören, daß man einen gemeinsamen Freund hatte. Es gab also doch so etwas wie eine Gesprächsgrundlage. »Sie kennen Leutnant Nately?« fragte er kummervoll.
»Ja, ich kenne Leutnant Nately sehr gut.«
»Er ist ein bißchen verrückt, nicht wahr?«
Der Kaplan lächelte verlegen. »Ich fürchte, ich kann darüber nichts sagen. So gut kenne ich ihn wieder nicht.«
»Sie dürfen es mir schon glauben«, versicherte Yossarián. »Er ist so bescheuert, wie man nur sein kann.«
Der Kaplan prüfte die entstandene Stille und brach sie dann mit einer unvermittelten Frage. »Sie sind Captain Yossarián, nicht wahr?«
»Nately hat einen schweren Start gehabt. Er stammt aus einer pikfeinen Familie.«
»Bitte, entschuldigen Sie«, beharrte der Kaplan schüchtern, »ich begehe vielleicht einen schwerwiegenden Irrtum. Sind Sie Captain Yossarián?«
»Ja«, bekannte Captain Yossarián. »Ich bin Captain Yossarián.«
»Von der 256. Staffel?«
»Von der 256. Staffel«, erwiderte Yossarián. »Ich wußte gar nicht, daß es noch andere Captains Yossarián gibt. Soweit mir bekannt ist, bin ich der einzige Captain Yossarián, den ich kenne, aber eben nur, soweit mir bekannt ist.«
»Aha«, bemerkte der Kaplan unglücklich.
»Das wären dann insgesamt zwei«, bedeutete ihm Yossarián, »falls Sie etwa daran denken sollten, ein symbolisches Gedicht über unsere Staffel zu verfassen.«
»Nein«, murmelte der Kaplan. »Ich beabsichtige nicht, ein symbolisches Gedicht über Ihre Staffel zu verfassen.«
Yossarián setzte sich ruckartig auf, als er das kleine silberne Kreuz auf der anderen Seite am Kragen des Kaplans bemerkte.
Er war tief erstaunt, denn bis dahin hatte er noch nie mit einem Militärseelsorger gesprochen.
»Sie sind Kaplan!« rief er aufgeregt. »Ich wußte gar nicht, daß Sie Kaplan sind.«
»Ja, natürlich«, antwortete der Kaplan. »Wußten Sie denn nicht, daß ich Kaplan bin?«
»Nein, durchaus nicht. Ich wußte nicht, daß Sie Kaplan sind.«
Yossarián starrte ihn fasziniert an. »Ich habe nämlich noch nie einen Kaplan gesehen.«
Der Kaplan errötete wieder und blickte auf seine Hände. Er war ein zierlicher Mann von etwa zweiunddreißig Jahren, hatte braunes Haar und schüchterne braune Augen. Sein Gesicht war schmal und recht blaß. Auf jeder seiner Wangen hatte er ein harmloses Nest alter Pickelnarben. Yossarián wünschte ihm behilflich zu sein.
»Kann ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein?« fragte der Kaplan.
Yossarián schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Ich habe alles, was ich brauche, und fühle mich durchaus wohl. In Wirklichkeit bin ich nämlich gar nicht krank.«
»Das ist ja schön.« Kaum
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