Cedars Hollow (German Edition)
seinen leisen Atem hören.
Ich schlich nach draußen auf den Flur und ging in die Küche. Ich wollte gerade das Licht einschalten, zuckte aber zurück, als ich einen kalten Finger auf meinem Handrücken spürte.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“
Ich erkannte Raphaels Stimme, atmete erleichtert auf und ta s tete erneut nach dem Lichtschalter. Für einen Moment blendete mich die gleißende Helligkeit, dann hatten meine Augen sich daran gewöhnt.
Raphael stand mir gegenüber und musterte mich durchdri n gend. Schließlich wandte er sich wieder von mir ab und setzte sich an den Küchentisch. Ich zögerte kurz, dann machte ich einen Schritt und setzte mich zu ihm.
„Es ist noch ziemlich früh“, sagte er und schaute mich fr a gend an. „Bist du nicht müde?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht mehr schlafen.“
Er nickte zerstreut. Mir fiel auf, dass er irgendwie besorgt und u n ruhig wirkte. Ich sprach ihn darauf an, doch er verneinte und sagte, was gestern geschehen war, habe ihn erschreckt. Mehr wollte er zu dem Thema allerdings nicht sagen. Ich be o bachtete beunruhigt, wie er seine Fingernägel in die Tischplatte bohrte und die Lippen aufe i nander presste. Erst da begriff ich.
„Du hast Durst, oder?“
Raphael zog die Augenbrauen zusammen und atmete schna u bend aus. „Sehr richtig erkannt. Könntest du also bitte vers u chen, dich nicht allzu hastig zu bewegen?“
Mir war nicht aufgefallen, dass ich mich schnell oder unbedacht bewegt hatte. Andererseits empfand ein Vampir das sicher ganz a n ders als ich, weil er viel schärfere Sinne hatte.
„Tut mir leid“, sagte ich. „Ich wollte es dir nicht noch schwerer machen.“ Ich machte Anstalten, aufzustehen und zu gehen.
„Warte.“ Raphaels Miene wirkte noch immer starr, aber seine Stimme klang nun weit weniger gereizt. „Mir tut es leid, ich war u n höflich. Bitte bleib hier, ich verspreche auch, mich zu b e nehmen.“ Er lächelte, was mich überraschte, weil er das so selten tat.
Ich zögerte. „Bist du dir sicher? Ich möchte deine Willenskraft nicht überstrapazieren.“ Bestimmt war es unerträglich für ihn, mich vor sich zu haben. Eine Mahlzeit auf Beinen.
Raphael lachte. „Meine Willenskraft überstrapazieren? Das kann niemand. Mir geht es bestens.“
Er wirkte jetzt tatsächlich ein wenig entspannter als noch zuvor. Ich lächelte und spürte, wie ich mich wieder beruhigte. Es überrasc h te mich, dass er so gutgelaunt war. Am Abend zuvor hatte er anders auf mich gewirkt, schweigsamer und zurückhaltender.
„Du bist sehr tolerant“, sagte Raphael. „Ich glaube, kein anderer Mensch würde freiwillig allein in einem Zimmer mit mir bleiben.“
„Ich bin nicht toleranter als andere“, sagte ich. Ich hatte nicht das Gefühl, seine Anerkennung für etwas verdient zu haben, das ich für ganz selbstverständlich hielt.
„Da bin ich anderer Meinung. Ich habe die Menschen lange genug beobachtet, um zu wissen, dass Leute, die auch nur geringfügig anders sind als andere, keine Chance haben, in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Die Menschen sind grausam. Sie verstoßen jene, die Mitgefühl und Toleranz am nötigsten haben.“
Es erschreckte mich, dass er so dachte. Seine Worte wirkten verbi t tert; was musste er erlebt und gesehen haben, dass er so l che Dinge sagte?
„Die Geschichte der Menschheit beweist es doch“, fuhr er fort. „Seit ewigen Zeiten werden Leute verfolgt, die nicht dem üblich e n Muster oder der menschlichen Vorstellung entsprechen. Wenn die Me n schen von der Existenz der Vampire erfahren würden, wären wir todg e weiht.“
„Das denke ich nicht. Nicht alle Menschen sind so, wie du sagst.“
„Nein, nicht alle. Du nicht.“ Er lächelte wieder. Ich kapierte nicht, womit ich seine Anerkennung verdient hatte.
Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Corvus’ Stimme an meine Ohren drang und mich die Diskussion mit Raphael augenblic k lich vergessen ließ.
„Guten Morgen.“
„Morgen“, erwiderte ich. Eine Zehntelsekunde später stand Corvus direkt hinter meinem Stuhl und legte mir seine Hand auf die Schulter. „Geht’s dir wieder besser?“, fragte ich ihn.
Zur Antwort schenkte er mir eines seiner Lächeln, die jedes Mal d a für sorgten, dass ich mich fühlte wie eine Lottogewinnerin. Seine dunklen Augen mit ihrer Sogwirkung ließen mich für einen Auge n blick vergessen, dass Raphael noch immer anwesend war und uns be o bachtete. Es war wie am gestrigen
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