Cevdet und seine Soehne
Wolken kommen sich immer näher. Warum soll ich über eine solche
Kleinigkeit aufregen? Ich war heute beim Fußball. Fenerbahçe – Vefa: eins zu null. Jetzt fahren wir
nach Hause. Osman ist mir böse, weil ich nicht so werden kann, wie er sich das
wünscht. Er hat ja recht. Aber wir müssen alle einmal sterben!«
Osman sperrte die Autotüren auf, und
seiner Miene merkte man an, dass er sich nicht so leicht würde aufheitern
lassen. Bevor die anderen noch richtig saßen, ließ er schon den Motor an. Auf
Nermins besänftigende Scherze ging er nicht ein. Er wartete auch nicht lange,
bis der Motor warm war, sondern fuhr das violettfarbene Auto gleich los in
Richtung Nişantaşı.
Außer dem Brummen des Motors war
nichts zu hören. Refık saß hinten an das Seitenfenster gelehnt und sah auf
die vorbeiziehenden Bilder hinaus. Seit er als Student hier jeden Tag mit der
Trambahn entlanggefahren war, hatte sich an den Gebäuden, den Mauern, den
Bäumen kaum etwas geändert. »Ich war beim Fußball, und jetzt fahren wir nach
Hause. Es ist Sonntag nachmittag, der 19. März 1939. Morgen werde
ich wie üblich in die Firma gehen. Da hängen sich Kinder an die Trambahn …
Meine Mutter liegt mit Grippe im Bett … Es ist kalt draußen … Zu Hause
werde ich Tee trinken, ein wenig mit den anderen unten sitzen und dann
hinaufgehen. Wir werden reden, Perihan und ich … Worüber? Warum reden wir
jetzt nicht? Osman hat eine Geliebte, von der Nermin nichts weiß. Oder doch?
Nermin hat auch ein Verhältnis, und davon habe ich Osman nichts gesagt! Wir
müssen alle einmal sterben. Worauf wartet denn der Mann da? Friedhöfe,
Grabsteine, Christen … Herr Rudolph … Was soll ich dem schreiben?
Hölderlin. Wie spät ist es? Halb sechs. Meine Mutter wird sich Sorgen machen.
Was wohl Melek macht? Es wird sich alles wieder einrenken, mein ganzes Leben
… Ich werde herausbekommen, was zu tun ist … Der Mitgliedsbeitrag? Und ich
werde herausfinden, wie man leben muss … Später, später einmal … Wenn ich
erst einmal mein großes Projekt auf die Beine gestellt habe, wird mein Leben in
geregelten Bahnen verlaufen. Und was mache ich jetzt? Ich warte und sehe zum
Fenster hinaus. Und sage im Auto nichts. Zu Hause im Schlafzimmer werden
Perihan und ich reden. Seit einem Monat bin ich aus Ankara zurück … Perihan
ist mir nicht böse … Bücher … Ich lebe …«
51
DIE REISE
Ömer erwachte und stand sogleich vom
Bett auf. Obwohl er in Anzug und Krawatte geschlafen hatte, fühlte er sich, als
hätte er sich soeben erst angezogen und sich das Gesicht mit kaltem Wasser
erfrischt, und tatendurstig ging er im Hotelzimmer herum. Er sah auf die Uhr:
halb sechs. »Sonntag nachmittag … Hm, warum soll ich nicht heute losfahren?
Vielleicht hat er ja angerufen!« Sein Zimmertelefon hatte nicht geklingelt,
aber er ging rasch hinunter und fragte den Hotelburschen, ob ein Anruf für ihn
gekommen sei. Das war nicht der Fall. Er ging wieder hinauf, und angetrieben
von einer ganz besonderen Energie, packte er rasch seinen Koffer. Er ging damit
hinunter und sagte dem Hotelburschen, er werde für eine Weile wegfahren und
wolle daher seine Rechnung begleichen. Daraufhin trat ein älterer Angestellter
hinzu und erklärte, man werde versuchen, ihm sein Zimmer freizuhalten. Wo er
denn hinfahre und für wie lange? Ömer erwiderte, jetzt, wo die Saison wieder
beginne, werde er nach Kemah fahren und noch einige Fahrzeuge und Maschinen von
der Baustelle loszuschlagen versuchen, aber er werde bald zurück sein. Er
zahlte seine Rechnung und fuhr mit dem Taxi zum Bahnhof. Dass sein Zug um
sieben fahren würde, hatte er schon am Morgen erfragt. Nachdem er sich eine
Fahrkarte besorgt hatte, ging er in die Gaststätte des neuen Bahnhofs und
bestellte ein Kalbsfilet.
Er hatte schon eins zu Mittag
gegessen, und da es wie die Krönung des ganzen schönen Vormittags gewesen war,
wollte er nun wieder eines. Am Vorabend war er von Muhtars Haus ins Hotel
zurückgekehrt und hatte sich geschworen, mit dem Trinken aufzuhören. Nach
langem traumlosem Schlaf war er genauso energiegeladen erwacht wie vor einer
Stunde auch, hatte sich anständig angezogen und sich auf den Weg zu Muhtar
gemacht, in der frischen Überzeugung, in einer solchen Situation sei nun mal
eine Entschuldigung angebracht. Die Morgenluft war so herrlich gewesen, dass er
aufs Taxi verzichtet hatte und zu Fuß bis Yenişehir gegangen war. Kein
Wölkchen war am Himmel gewesen. Da es in der Nacht geschneit
hatte,
Weitere Kostenlose Bücher