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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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einsteigt, kam die Familie
Pamuk erst in den dreißiger Jahren, also nach Ausrufung der Republik, durch
Aktivitäten meines Großvaters im Eisenbahnbau zu Wohlstand. Eine Schicht
muslimischer Geschäftsleute bildete sich erst heraus, als die nichtmuslimische
Bourgeoisie Istanbuls, also Griechen, Armenier und Juden, durch Sondersteuern
und Schikanen aller Art nach und nach aus dem Land vertrieben wurde. Die
Geschichte Cevdets lässt sich mit der des 1996 verstorbenen Vehbi Koç vergleichen, der in den
Gründerjahren der Republik mit einer Bau- und Eisenwarenhandlung begann und
sich zum reichsten Großindustriellen der Türkei hocharbeitete. In den sechziger
Jahren zog er von Ankara in das Istanbuler Stadtviertel Osmanbey um, und von
dort war es nur ein Katzensprung nach Nişantaşı, wo sowohl die
Pamuks lebten als auch Cevdet oder der noch später zu Reichtum gelangte Kemal
Basmacı aus dem Museum der Unschuld. Alle Familien von
Nişantaşı kauften in denselben zwei Lebensmittelläden und bei
dem exquisiten Obst- und Gemüseladen ein, der sich viel auf seine besonders
schmackhaften Zitrusfrüchte und die zu Silvester importierten Ananas zugute
hielt. Und die Familien kannten sich natürlich untereinander, genauso wie sich
ihre Köche kannten, die die gleichen Gerüchte verbreiteten, etwa das von der
angeblich reichsten Frau der Türkei, die dennoch mit ihrer Feilscherei den
Obsthändler Hasan einmal schier zum Wahnsinn trieb.
    Jene Familien, die über einen langen
Zeitraum hinweg Nişantaşı zum wohlhabendsten (aber nicht gerade
interessantesten) Viertel Istanbuls machten, zogen ab den
siebziger Jahren immer häufiger fort. Durch die zunehmende verkehrstechnische
Erschließung der Hügel, die sich am Bosporus entlangreihen, wurde es immer
attraktiver, dort alte Villen zu renovieren oder aber sie abzureißen und an
ihrer Stelle Betonhäuser mit Meeresblick zu errichten.
    Durch den Wegzug vieler Reicher
veränderte sich auch das Straßenbild des Viertels, das als das bürgerlichste
und zumindest dem äußeren Anschein nach europäisierteste Istanbuls gegolten
hatte. Als erstes wurden die großen Garagen geschlossen, in denen die Leute
abends vom Chauffeur ihre Limousinen abstellen ließen. Die Garagen in der Şair-Nigâr-Straße, in der Ka,
der Held meines Romans Schnee, wohnte, wurden alsbald in Geschäfte
umgewandelt. Niemand verfiel mehr auf den Gedanken, jeden Abend seinen Wagen
mit Seifenwasser und riesigen Naturschwämmen waschen zu lassen, denn der Besitz
eines Autos hatte an Statuswert eingebüßt. Als in den siebziger Jahren die
türkische Autoproduktion begann und der Stadtverkehr sich allmählich zum
Problem auswuchs, wurden sämtliche Straßen Nişantaşıs zu
Einbahnstraßen, wodurch mir das Viertel schon leicht entfremdet wurde. In die
für Familien konzipierten geräumigen Altbauwohnungen entlang der Hauptstraßen
zogen nach und nach Architekten- und Reisebüros, Arztpraxen und die
Geschäftstellen großer Firmen ein. Traditionelle Krämer- und Delikatessenläden,
Metzgereien, Blumengeschäfte und die kleinen Lädchen, in denen man seine Wäsche
bügeln und stärken lassen konnte, wurden immer mehr durch Bankfilialen,
Apotheken, Schreibwarengeschäfte, Buchhandlungen, Kunstgalerien, Boutiquen und
Cafés ersetzt.
    Wo bis dahin alter Geldadel und die
Nachfahren von Paşas wohnten, siedelten sich immer mehr Journalisten,
Intellektuelle und Werbeleute an. Vor der Teşvikiyemoschee, in der die
Trauerfeier für Cevdet oder für Kemal aus dem Museum der Unschuld abgehalten
wurde, bauten Buchverkäufer jeden Tag ihre Stände auf, und wenn ich mit meiner
Arbeit gerade nicht weiterkam, flüchtete ich mich hinaus auf die Straße,
stöberte in den Büchern herum, aß eine Kleinigkeit in einer Kneipe und traf
dabei bestimmt irgendeinen Bekannten, einen Maler oder Schriftsteller, mit dem
sich ein Schwätzchen halten ließ.
    Mitte der neunziger Jahre griff
allerdings der Wandel von den Haupt- auf die Nebenstraßen über, und
Nişantaşı wurde allmählich von einem Wohn- zu einem Geschäfts-
und Einkaufsviertel. Die Gassen, in denen der Dichter Ka gelebt und der
Kolumnist Celâl aus dem Schwarzen Buch seine Kindheit verbracht hatte,
wurden von dem bis dahin dort wohnenden Mittelstand, den Rechtsanwälten, Ärzten
und Versicherungsvertretern, überraschend schnell verlassen, und Einzug hielten
oft genug Textilateliers, in denen junge Mädchen täglich zehn Stunden arbeiten
mussten. In vielen Fällen wurde das

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