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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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Armseligkeit hat mir gegraut. Sie gähnen,
rauchen, reden dummes Zeug, sie leben. Und siehst du: ich weine. Dass es einmal
soweit mit mir kommt …« Beschämt zog er sich die Bettdecke bis an die Stirn.
Dann schob er sie zurück und rief: »Vielleicht werde ich ja gesund! Dann gehe
ich nach Paris und mische wieder mit!« Doch schon hustete er los.
    Sein Hustenanfall kam Cevdet länger
und schlimmer vor als die bisherigen. »Ja, er stirbt, und das ist furchtbar!«
Ihm war, als würde er zum erstenmal die Lage seines Bruders so richtig
begreifen. Von dessen Warte aus betrachtet mussten Cevdets kleine Sorgen, seine
Tätigkeit im Laden, das Kaufen und Verkaufen der Waren, die Briefe, die er
schrieb, um dieses Kaufen und Verkaufen möglichst vorteilhaft zu gestalten, die
Verhandlungsgespräche und überhaupt das viele kleinliche Berechnen tatsächlich
hässlich erscheinen. Um das zu verdrängen, dachte Cevdet: »Ich werde in
Nişantaşı mit Nigân zusammenleben! In dem kühlen, luftigen
Garten und in den Zimmern jenes Hauses …«
    Nusret rief: »Warum habe ich nur
soviel gesoffen? Alles nur wegen dem Alkohol! Wäre ich dem nicht so verfallen,
dann würde ich jetzt hier nicht krepieren!«
    »Zuviel getrunken hast du wahrlich.«
Kaum hatte Cevdet das gesagt, da schien ihm sein Werdegang, den er gerade noch
als hässlich empfunden hatte, plötzlich so wie immer, nämlich zusammengesetzt
aus lauter nötigen und richtigen Handlungen, und er beruhigte sich wieder. Das
aufflammende Schreckensbild, das sein Bruder in ihm ausgelöst hatte, war ihm aber
derartig in die Glieder gefahren, dass er Nusret böse war.
    »Ich habe also zuviel gesoffen. Nun,
gesoffen habe ich tatsächlich. Weil mich nur der Alkohol bremsen konnte. Mein
Kopf steckt nämlich nicht voller Profitgier wie der deine, sondern voller Wut und
Hass. Aber das kannst du nicht verstehen. Weißt du, was Wut eigentlich ist? Die
Wut, die ich empfunden habe, war mir immer das Allerwichtigste. Aus lauter Hass
wollte ich alles niederreißen. Und vor allem wollte ich, dass meine Wut nie
verraucht. Und das ist mir auch gelungen! Für dich dagegen hat es immer nur
Bewunderung und Sehnsucht gegeben. Um zu erreichen, wonach du dich sehntest,
hast du auch immer versucht, alles zu verstehen. Ich dagegen will überhaupt
nichts verstehen! Wer alles versteht, kann nicht zugleich wütend sein! Und
dabei …« Er stockte und hob den Kopf vom Kissen. »Und dabei bin ich ein
völliger Idiot. Sogar auf meine erbärmliche Lage bin ich noch stolz. Ein
eingebildeter Dummkopf bin ich. Und als Dummkopf werde ich auch sterben! Intelligente
Leute leben nämlich irgendwie weiter. Dummköpfe dagegen sterben … Nein, ich
werde leben! Glaubst du, ich werde wieder gesund?«
    »Natürlich wirst du das! Aber du
darfst dich nicht so anstrengen! Schlaf jetzt!«
    »Ja, ich werde wieder gesund. Ich muss
nur einen Monat lang richtig behandelt werden. Und mich gesund ernähren. Ich
werde noch einmal Geld von dir brauchen. Ich zahle dir aber bestimmt alles
zurück, darauf lege ich Wert, weißt du. Ich schicke dir dann Geld aus Paris.
Dort finde ich bestimmt eine gute Arbeit. Weißt du, was der berühmte Chirurg
Blanchot mal zu mir gesagt hat? Dass ich für einen Chirurgen mehr als die
nötige Portion Kaltblütigkeit habe. Der findet sicher eine Stelle für mich. Und
dann mache ich auch bei der Bewegung wieder mit. Im letzten halben Jahr habe
ich begriffen, was bisher falsch gelaufen ist. Als erstes werde ich zu Ahmet Rıza sagen, dass Sabahattin ein
Trojanisches Pferd ist. Du kennst doch die Geschichte vom Trojanischen Pferd?
Kennst du nicht? Oje, nicht einmal das weiß er! Keiner weiß mehr etwas. Und
mich finden sie sonderbar. Ich finde vielmehr sie apathisch. Es ist doch
furchtbar hier. Paris dagegen ist voll von Leuten, die das Trojanische Pferd
kennen. Du weißt ja gar nicht, wie angenehm es ist, sich mit einem Europäer zu
unterhalten! Damit meine ich natürlich nicht die dämlichen Missionare und
Banker, die sich hier herumtreiben! Ich meine echte Europäer: Voltaire,
Rousseau, Danton … Die Revolution …« Plötzlich stimmte er einen Marsch an.
    Resigniert sagte Cevdet: »Du sollst
dich doch nicht anstrengen!«
    »Sei still und hör dir das da andächtig an!« Dann
klang eine Marschmelodie durch den Raum, die wie ein irgendwo hinunterholpernder Stein begann und sich dann
immer wieder zusammenballte und entlud.
    Von der Melodie war Cevdet angetan;
mit dem von seinem Bruder geröchelten

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