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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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Französisch hatte er mehr Mühe.
    »Siehst du, das war die
Marseillaise!« rief Nusret schließlich aus. »Der ruhmreiche Marsch der
Französischen Revolution! Wann kriegst du den hier schon zu hören? Weißt du,
was Republik bedeutet? Weißt du natürlich nicht. Şemsettin Sami traute sich nicht einmal, den
Begriff in sein großes Französisch Wörterbuch aufzunehmen. Die Republik ist
genau die Regierungsform, die wir brauchen. In Frankreich ist sie eingeführt
worden, und zwar zu ebendiesen Tönen. Hör es dir noch mal an: Allons enfants de
la …«
    Da ging die Tür auf. Mari rief: »Was
ist denn da los? Nusret, ich flehe dich an, hör sofort damit auf!«
    »Misch du dich da nicht ein! Wenn
ich schon sterben muss, will ich dabei wenigstens das da singen!«
    »Man hört dich bis raus auf die
Straße. Sollen sie uns hier auch noch rauswerfen?« Sie sah Cevdet an. »Sagen
Sie doch bitte etwas!«
    »Ich habe ihm schon gesagt, dass ich das nicht richtig
finde.«
    »Ja, versteht mich denn hier keiner!« rief Nusret und sah Mari wütend an.
    Mari berichtete, wie sie Ziya zu
Bett gebracht hatte. Zuerst habe er sich ein wenig gefürchtet, aber dann sei er
doch eingeschlafen. Sie schien den Jungen zu mögen.
    »Verblöden haben sie ihn lassen!«
rief Nusret. Dann sinnierte er eine Weile. »Na ja, schon seine Mutter war so.
Wenn ich sagte, in Europa wollen die Frauen das Wahlrecht und
Gleichberechtigung, was hältst du davon, dann sagte sie nur: Wie du meinst. Ich
habe sie zurück zu ihrer Familie geschickt! Ich weiß gar nicht, was man sich
hier für eine Frau nehmen soll.« Er lächelte Mari an. »Eine Christin soll man
sich nehmen.« Dann fragte er Cevdet: »Du meinst also, man kann auch eine
Muslimin heiraten? Aber eine Paşatochter ist wohl doch nicht die richtige
Wahl. Wir brauchen nämlich eine Revolution, bei der es den Paşas und ihrer
ganzen Sippschaft an den Kragen geht! Ob’s mal soweit kommt? Ach, Schluss
damit!«
    »Ja, du solltest jetzt endlich
schlafen!« sagte Mari.
    »Ich will aber nicht schlafen. Wo
ich mich seit Tagen zum erstenmal nicht erschöpft fühle. So ist es aber häufig:
Der Patient übersteht die erste Krise und lebt wieder auf. Die zweite Krise
dauert ein paar Tage. Erst werde ich im Halbschlaf daniederliegen, dann ganz einschlafen
und von Fieberkrämpfen geschüttelt werden, und dann …« Er hustete wieder
kurz. »Und dann sterbe ich. Ich will jetzt aber reden! Ja, reden wir doch!
Worüber? Mari, sag doch mal, was du über mich denkst. Und dann, was du von
Cevdet hältst … Na? Warum sagt ihr denn nichts? Ich will jetzt was trinken!
Ich fühle mich völlig gesund! Ob die da drunten immer noch schwatzen? Ich schau
mal nach. Wenn ja, dann suche ich mir ein Thema, das zu ihnen passt.
Rheumatische Beschwerden zum Beispiel, das wäre doch was? Oder dass früher
alles billiger war … Passt auf, ich erzähle euch jetzt von der Revolution!
Genau die brauchen wir nämlich! Eine blutige Revolution! Wo sollen die
Guillotinen aufgestellt werden? Auf dem Sultanahmetplatz! Da müssen sie tagelang
heißlaufen. Von Sultanen, Prinzen, Paşas und ihren sämtlichen Angehörigen
und Speichelleckern muss das Blut in Strömen fließen, bis es sich in Sirkeci
ins Meer ergießt.«
    »Jetzt reicht’s aber!« rief Cevdet
und stand auf.
    »Warum denn? Was passt dir daran
nicht? Du bist doch Kaufmann, dir tut keiner was zuleide. Anders kommen wir
doch aus dem Dunkel nie heraus. Setz dich hin und hör mir zu. Wo war ich
stehengeblieben? Ach ja, bei den Guillotinen. Es darf keinen Pardon geben.
Alles muss mit Stock und Stumpf herausgerissen werden. Keinerlei Gnade!« Dann
ließ er den gekrümmten Körper wieder aufs Bett fallen. »Aber ich weiß ja, dass
das alles nie geschehen wird. Leider! Sie schaffen es einfach nicht. Nie und
nimmer! Da muss ich dir was erzählen. Vor drei Monaten, als ich noch nicht so
krank war, bin ich mal nach Aşiyan
zu Tevfık Fikret
gefahren. Er gab gerade Unterricht im Robert-Gymnasium, und ich habe gewartet,
bis er fertig war. Danach habe ich ihm gesagt, wie sehr ich seine Gedichte
bewundere und dass ich ihn für einen neuen Namık Kemal halte. Er sah mich nur misstrauisch an.
Ich überschüttete ihn weiter mit Lobesworten, für die ich mich jetzt nur
schämen kann. Dann erzählte ich ihm von der Lage in Europa und davon, was
meiner Ansicht nach zu tun ist, um den Kampf hier zu verstärken. Da
fragte er mich, warum ich denn aus Europa zurückgekehrt sei. Wahrscheinlich
hielt er mich für

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