Cevdet und seine Soehne
er.
»Das heißt, wissen tun sie es natürlich schon, aber sie denken nicht daran!
Keiner denkt an seinen Tod. Und wenn der Mensch nicht an seinen Tod denkt, dann
kann er gleichgültig und furchtlos dahinleben und alles als ganz natürlich
hinnehmen, und er kommt nicht darauf, dass man etwas tun muss!« Er sah auf die
vor ihm liegenden Kerne. Auf den ersten Blick sahen sie alle gleich aus, doch
konnte man kleine Unterschiede ausmachen. »Wie bin ich nur so geworden, wie ich
bin?« In seinen Gedichten spielten Tod und Todesfurcht eine große Rolle. »Dass
ich sterben muss, habe ich von Baudelaire gelernt. Von ihm und von den anderen
Franzosen, und nun bin ich ebenso geworden! Aber anstatt hier leeren Gedanken
nachzuhängen, stehe ich jetzt lieber auf und gehe nach Hause!«
»Was schreibt dir Ömer so?« fragte
Refık.
»Nichts! Seit er beschlossen hat zu
heiraten, schickt er mir sowieso kaum noch Briefe. Vielleicht hat er Angst vor
mir! Nein, war nur ein Scherz … Jedenfalls schreibt er nur noch
Belanglosigkeiten. Ich habe auch gerade erst erfahren, dass er seinen
Heiratsantrag per Brief gemacht hat. Wer ist das Mädchen überhaupt?«
»Sie ist verwandt mit ihm, aber ganz
weitläufig, glaube ich. Wusstest du, dass ihr Vater Abgeordneter von Manisa
ist?«
»Schau einer an!« rief Muhittin
aus. »Da hat unser Rastignac ja ins Schwarze getroffen! Nein, das wusste ich
noch nicht.«
»Du bist ja gut! Aber was ist schon
ein Abgeordneter?«
»Alles oder nichts!«
»Bald fährt er jedenfalls mit seinem
Onkel und seiner Tante nach Ankara. Sie haben zwar schon beschlossen zu
heiraten, aber da kommt ja noch der ganze offizielle Teil, das Handanhalten und
so.«
»Oje. Kommt dir das nicht lächerlich
vor?«
»Warum denn? Ich habe auch zusammen
mit meinen Eltern um Perihans Hand angehalten. Und das Ergebnis kann sich doch
sehen lassen!« Dabei lächelte er Perihan an. »Und was soll daran lächerlich sein?
Die Eltern wollen sich doch gegenseitig kennenlernen, und dabei kann es sogar
recht lustig zugehen …«
Muhittin dachte: »Es ist ihm einfach
nicht zu vermitteln! Schade, aber mit Freundschaften kann es eben bergab
gehen.« Er dachte an Ömer. »Seine spöttische Art hat mir immer gefallen, aber
ich bin sicher, dass auch er sich ändern wird. Er schlüpft ja jetzt schon in
die Rolle des gutaussehenden, reichen Ingenieurs. Ich mag aber keine Leute, die
beliebt sind und auffallen. Viel lieber sind mir Außenseiter, die einen Hass in
sich tragen. Wie zum Beispiel meine zwei Militärkadetten!« Er traf sich ab und
zu mit den beiden, wenn sie auf dem Rückweg zu ihrer Militärschule in Yıldız noch in Besiktas
etwas tranken. Sie interessierten sich für Literatur, und Muhittin hatte das
Gefühl, einen gewissen Einfluss auf sie auszuüben. »Was sitze ich hier noch
herum? Es ist viel besser, wenn ich mich mit den Kadetten unterhalte. Wir haben
viele Gemeinsamkeiten. Und können unseren Hass noch weiter schüren …«
Von Karaköy her fuhr ein
Stadtdampfer heran. Alle sahen ihm beim Anlegemanöver zu. Muhittin erspähte auf
einen Blick seinen Namen und seine Nummer: 47, Halas!
»Wie geht es deiner Mutter, von der
erzählst du gar nichts mehr!« erkundigte sich Refık.
»Geht so. Meist sitzt sie zu Hause
herum. Mal besucht sie jemanden, mal kriegt sie selber Besuch. Sie isst und
lacht und schläft und atmet. Und kümmert sich um ihre Topfpflanzen …«
»Und gesundheitlich?«
»Fehlt ihr nichts.«
»Hatte sie nicht mal Nierenbeschwerden?«
»Was du dir alles merkst!«
»Mit meinem Vater wird es immer
schlimmer«, sagte Refık nachdenklich.
»Was hat er denn?«
»Na ja, du weißt ja, dass er einen
Herzinfarkt hatte, und mit seinen Lungen steht es auch nicht zum besten; er hustet
immer ganz fürchterlich. Und dann hört er auch noch schlecht. In der Firma
bringt er kaum noch etwas zustande. In den letzten Tagen war es besonders
schlimm. Er regt sich auf, weil sein Herz nicht mehr so mitmacht wie früher,
und dann gehen meist auch gleich die Lungenbeschwerden los. Und mit dem Kopf
sieht es auch nicht besser aus. Sein Gedächt nis lässt ihn immer mehr im Stich.
Er vergisst alles und ärgert sich dann darüber … Mit der Firmenleitung war er
zuletzt völlig überfordert, so dass Osman sogar seine Befugnisse einschränken
musste. Selbst seine privaten Ausgaben muss er jetzt von Osman kontrollieren
lassen! Ich erzähle dir das nur, weil es mir so leid um ihn tut. Pass nur gut
auf deine Mutter auf!«
»Tja, das Alter
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