Chalions Fluch
hatte.
»Cazaril, könnt Ihr Euch nur dann dazu durchringen, eine Dame zu küssen, wenn Ihr Euch vom Tod bedroht seht?«, wollte sie unvermittelt wissen.
Er wandte den Blick ab, wurde rot und räusperte sich. »Ich bitte vielmals um Vergebung, Lady Betriz. Es wird nicht wieder vorkommen.«
Cazaril wagte es nicht, aufzublicken, aus Furcht, sie könnte ein weiteres Mal versuchen, durch seine zerbrechlichen Absperrungen zu dringen, und dass es ihr gelingen könnte. O Betriz, opfert nicht Euren Stolz im Bemühen um einen Todgeweihten.
Ihre Stimme wurde förmlich. »Ich bedaure sehr, das zu hören, Kastellan.«
Er hielt den Blick auf seine Bücher gesenkt, während ihre Schritte sich entfernten.
Einige Tage vergingen, während Iselle ihren Feldzug gegen Orico fortsetzte. Und Cazaril verbrachte mehrere schreckliche Nächte mit den Schreien von Dondos Seele in ihrer kleinen Hölle. Diese Heimsuchung in seinen Eingeweiden wiederholte sich tatsächlich jede Nacht und ließ für die Dauer einer viertel Stunde die Schrecken von Dondos Tod wieder aufleben. Vor dem mitternächtlichen Zwischenspiel konnte Cazaril jedes Mal vor ängstlicher Anspannung nicht einschlafen – und auch danach für lange Zeit nicht, so aufgewühlt war er von der Erinnerung. Sein Gesicht wurde grau vor Erschöpfung. Im Vergleich zu diesem nächtlichen Albtraum wirkten die verschwommenen alten Geistererscheinungen bald wie angenehme Hausgenossen. Cazaril konnte unmöglich in jeder Nacht so viel Wein trinken, dass er volltrunken schlief, und so fand er sich damit ab, diese Pein zu ertragen.
Orico ertrug die Besuche seiner Schwester weniger standhaft. Auf zunehmend bizarre Weise versuchte er, ihr aus dem Weg zu gehen, doch sie fand trotzdem stets eine Möglichkeit, bei ihm hereinzuplatzen – in sein Gemach, in die Küche, einmal sogar zu Nan dy Vrits größter Empörung während eines Dampfbades. Als er eines Tages in der Morgendämmerung zu seiner Jagdhütte in den Eichenwäldern ritt, folgte Iselle ihm sofort nach dem Frühstück. Erleichtert bemerkte Cazaril, dass sein eigenes geisterhaftes Gefolge zurückfiel, als sie den Zangre verließen, als wären diese Geschöpfe an den Ort ihres Todes gebunden.
Rasch wurde deutlich, dass der schnelle Galopp für Iselle ein unbeschreibliches Vergnügen war. Sie schüttelte die Fesseln und den Druck ihres beschränkten Lebens in der Burg ab. Ein Tag im Sattel, an der frischen Luft eines frühen Wintertages, unterwegs zu einem Gespräch oder auf dem Rückweg, ließ ihre Augen leuchten und brachte Farbe in ihre Wangen. Die vier Wachen aus Baocia, die zu ihrer Begleitung abgestellt waren, hielten Schritt, aber nur mit großer Mühe. Cazaril verbarg seine unerträglichen Schmerzen. An diesem Abend schied er wieder Blut aus, was schon seit Tagen nicht mehr geschehen war, und Dondos nächtliche Schreie erwiesen sich diesmal als besonders aufwühlend, weil Cazarils inneres Ohr zum ersten Mal einzelne Worte unterscheiden konnte. Sie ergaben zwar keinen Sinn, waren aber deutlich genug zu hören. Würde es noch schlimmer werden?
Als Cazaril spät am nächsten Morgen müde die Treppen zu Iselles Gemächern hinaufstieg, fürchtete er einen weiteren solchen Ausritt. Er hatte sich gerade steif auf dem Stuhl an seinem Schreibpult niedergelassen und sein Kassenbuch zur Hand genommen, als Königin Sara in Begleitung zweier ihrer Damen erschien. In einer Wolke weißer Wolle schwebte sie an Cazaril vorüber. Überrascht erhob er sich und verbeugte sich tief. Sie würdigte seine Anwesenheit mit einem schwachen, abwesenden Nicken.
In den verbotenen Räumlichkeiten jenseits von Cazarils Arbeitszimmer kündeten aufgeregte Frauenstimmen der Schwägerin ihren Besuch an. Sowohl die Kammerfräulein der Königin wie auch Nan dy Vrit wurden in den Aufenthaltsraum verbannt, wo sie abwarteten, stickten und leise Gespräche führten. Ungefähr eine halbe Stunde später kam Königin Sara wieder zum Vorschein und durchquerte Cazarils Vorzimmer mit ernster Geistesabwesenheit.
Betriz folgte kurz darauf. »Die Prinzessin bittet Euch, in ihrem Aufenthaltsraum vorzusprechen«, teilte sie Cazaril mit. Ihre schwarzen Brauen waren vor Zorn zusammengezogen. Cazaril stand sofort auf und begleitete sie nach drinnen.
Iselle saß auf einem geschnitzten Stuhl und umklammerte mit den Händen die Armlehnen. Sie war blass und atmete schwer. »Schändlich! Mein Bruder ist schändlich, Cazaril!«, ließ sie ihn wissen, während er sich noch verneigte
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