Chalions Fluch
die Seelen der Menschen sahen und nicht ihre Körper, so wie die Menschen Körper sahen, aber keine Seelen, erklärte das vielleicht, weshalb die Götter dem Aussehen so wenig Bedeutung beimaßen, oder anderen Dingen, die mit dem Körper in Zusammenhang standen. Schmerzen beispielsweise? War aus der Sicht der Götter Schmerz nur eine Illusion? Vielleicht war der Himmel kein Ort, sondern eher ein Blickwinkel, ein Aussichtspunkt, eine Perspektive.
Und im Augenblick unseres Todes rutschen wir gänzlich hinüber. Wir verlieren unseren Halt im Körperlichen und gewinnen … was?
Der Tod riss ein Loch zwischen den Welten auf. Und wenn ein Tod ein Loch zwischen den Welten aufriss, das sich rasch wieder schloss, was war dann nötig, um ein größeres Loch entstehen zu lassen? Nicht nur eine kleine Hintertür, durch die eine einzelne Seele schlüpfen konnte, sondern eine Bresche, tief ausgegraben und verstärkt, sodass ganze heilige Armeen hindurchströmen konnten?
Wenn ein Gott starb – was für eine Art Loch würde dies zwischen Himmel und Erde reißen? Was war dieser Segensfluch des Goldenen Heerführers überhaupt, dieses verbannte Etwas von der anderen Seite?
Welche Art von Tor hatte der roknarische Genius für sich selbst aufgestoßen, welche Art von Kanal hatte er gebildet …?
Cazarils angeschwollener Leib verkrampfte sich, und er rollte sich ein wenig zur Seite in eine bequemere Lage. Ich bin derzeit ein seltsamer Schnittpunkt. Zwei Verbannte aus der Welt der Geister waren in seinem Fleisch gefangen. Der Dämon, der gar nicht hierher gehörte, und Dondo, der bereits fort sein sollte, doch von seiner nicht getilgten Schuld festgehalten wurde. Dondo hatte kein Verlangen nach den Göttern. Dondo war ein Klumpen aus Eigensinn, ein bleierner Pfropf, der sich mit Klauen wie Enterhaken in seinem Körper festklammerte. Wenn Dondo nicht wäre, könnte er davonlaufen.
Könnte ich?
Er malte es sich aus. Er könnte davonlaufen … doch dann würde er niemals erfahren, wie es sich zum Guten hätte wenden können.
Dieser Cazaril. Hätte er nur noch einen Tag durchgehalten, eine weitere Meile, hätte er die Welt retten können. Doch er hat eine Stunde zu früh aufgegeben …
Der einzige Weg, jemals Gewissheit zu erlangen, bestand darin, bis zu seiner Vernichtung alles durchzustehen.
Bei den Göttern, ich muss verrückt sein. Ich glaube, ich würde den ganzen Weg bis in die Hölle des Bastards humpeln, nur um dieser entsetzlichen Neugierde willen!
Um sich her hörte er die anderen atmen, vernahm das gelegentliche Rascheln von Stoff. Der Brunnen plätscherte leise. Die Geräusche trösteten ihn. Er fühlte sich einsam, doch zumindest war er in guter Gesellschaft.
Willkommen in der Heiligkeit, Cazaril. Dank des Segens der Götter wirst du zum Hort von Wundern! Der Haken ist nur, du kannst dir diese Wunder nicht aussuchen …
Betriz hatte es genau verkehrt herum aufgefasst: Es ging nicht darum, den Himmel zu erstürmen. Es ging darum, sich selbst vom Himmel erstürmen zu lassen! Konnte ein gealterter Meister der Belagerung es noch lernen, aufzugeben, seine Tore zu öffnen?
In Eure Hände, Beherrscher des Lichts, empfehle ich meine Seele. Tut was Ihr tun müsst, um die Welt zu heilen. Ich stehe Euch zu Diensten.
Der Himmel hellte sich auf, wandelte sich vom Grau des Wintervaters zu jenem glänzenden Blau, das der Tochter eigen war. Im schattigen Innenhof konnte Cazaril die Umrisse seiner Gefährten erkennen, wie sie zunächst Grautöne zeigten und schließlich Farbe – die Gabe des Tages! Der Duft der Orangenblüten hing schwer in der taufeuchten Morgendämmerung, und er nahm auch Betriz’ Duftwasser wahr. Steif und kalt stieß Cazaril sich auf die Knie empor.
Von irgendwo aus dem Palast zerriss das Brüllen eines Mannes die Stille und wurde abrupt abgeschnitten. Eine Frau kreischte.
27
C
azaril legte eine Hand auf den Boden und stemmte sich hoch. Dann schob er den Mantel beiseite und legte seinen Schwertgriff frei. Überall um ihn herum erhoben sich die anderen und blickten beunruhigt umher.
»Dy Tagille.« Bergon machte eine Geste zu seinem ibranischen Begleiter. »Schau nach.«
Dy Tagille nickte und eilte los.
Dy Cembuer trug den rechten Arm noch immer in einer Schlinge. Er öffnete und schloss die linke Hand, rückte ungeschickt sein Schwert zurecht und folgte seinem Gefährten. »Wir sollten das Tor versperren.«
Cazaril blickte auf dem Hof umher, und auf den gefliesten Torbogen, dessen
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