Chalions Fluch
»Ja, und immerzu fasst er einen an. Igitt!«
Die Feder zerknickte unter Cazarils Fingern und verspritzte kleine Tintentropfen auf seinen Ärmel. Er legte die Bruchstücke beiseite. »Ach. Bei welcher Gelegenheit war das?«
»Oh, immerzu. Beim Tanz, beim Essen, in den Hallen. Ich will sagen, viele Herren hier flirten, manche auf recht angenehme Weise, aber Lord Dondo … er bedrängt einen! Es gibt eine Menge hübscher Damen bei Hofe, die mehr nach seinem Alter sind. Ich habe keine Ahnung, warum er denen nicht nachstellt.«
Um ein Haar hätte Cazaril sie gefragt, ob fünfunddreißig ihr ebenso alt vorkam wie vierzig, aber er schluckte es hinunter und sagte stattdessen: »Natürlich strebt er nach Einfluss auf den Prinzen Teidez. Daher sucht er jede Gunst zu erlangen, die er von dessen Schwester bekommen kann – sei es nun direkt oder auf dem Umweg über ihre Begleiter.«
Betriz atmete erleichtert auf. »Oh, meint Ihr? Der Gedanke, er könnte sich wirklich in mich verliebt haben, hat mich schon ganz krank gemacht! Aber wenn er sich nur zu seinem eigenen Vorteil bei mir einschmeicheln will, ist das in Ordnung.«
Cazaril dachte immer noch über diese Bemerkung nach, als sich Iselle sich auch schon wieder zu Wort meldete: »Er muss eine merkwürdige Meinung von mir haben, wenn er meine Gunst gewinnen will, indem er meine Begleiterin verführt! Und ich bezweifle, dass er einen noch größeren Einfluss auf Teidez benötigt, wenn das, was ich bisher beobachtet habe, als Beispiel dienen kann. Ich meine, wenn es ein guter Einfluss wäre, sollten wir dann keine guten Ergebnisse sehen? Eigentlich müssten wir erleben, dass Teidez sich eifriger seinen Studien zuwendet, dass er aufblüht, dass er seine Wahrnehmung auf irgendeine Weise erweitert.«
Cazaril hielt eine weitere Bemerkung zurück und verschwieg den Frauen, dass Teidez mit Lord Dondos Hilfe durchaus Neues entdeckte – in gewisser Weise jedenfalls.
Mit wachsender Leidenschaft fuhr Iselle fort: »Sollte Teidez nicht in der Kunst der Staatsführung unterwiesen werden? Sollte er nicht zumindest die Arbeit der Kanzlei verfolgen, bei Beratungen zugegen sein oder die Gesandten anhören? Oder wenn ihn schon nicht die Staatskunst gelehrt wird, so wenigstens die Kriegskunst! Es ist ja schön und gut, auf die Jagd zu gehen – aber sollte er keine militärische Ausbildung erhalten und lernen, wie man Truppen führt? Mir scheint, man füttert seinen Verstand nur mit Süßigkeiten, gibt ihm aber kein Fleisch zu essen. Zu was für einer Art König wollen sie ihn machen?«
Womöglich nur zu einem König wie Orico – weich und kränklich – , der Kanzler dy Jironal die Vorherrschaft in Chalion nicht streitig machen wird. Doch laut sagte Cazaril nur: »Das weiß ich nicht, Hoheit.«
»Wie kann ich es erfahren? Wie kann ich irgendetwas erfahren?« Mit raschelnden Röcken schritt sie auf und ab. »Es wäre Mutters und Großmutters Wunsch, dass ich auf meinen Bruder Acht gebe. Cazaril, könnt Ihr nicht wenigstens in Erfahrung bringen, ob Dondo tatsächlich Ritter der Tochter an den Thronfolger von Ibra verkauft? Das kann doch kein so unergründliches Geheimnis sein!«
Da hatte sie Recht. Cazaril schluckte. »Ich werde es versuchen, Hoheit. Aber was dann?« Seine Stimme wurde ernst, um die nachfolgenden Worte zu unterstreichen: »Dondo dy Jironal ist eine Macht, der Ihr nur mit äußerster Höflichkeit zu begegnen wagen solltet.«
Iselle fuhr herum und starrte ihn an. »Egal wie verdorben diese Macht ist?«
»Je verdorbener, desto gefährlicher.«
Iselle hob den Kopf. »Dann, Kastellan, sagt es mir – wie gefährlich ist Dondo dy Jironal Eurer Meinung nach?«
Er verzog den Mund. Sprich es aus: Dondo dy Jironal ist der zweitgefährlichste Mann in Chalion, nach seinem Bruder. Stattdessen jedoch nahm Cazaril eine neue Schreibfeder aus dem Tongefäß und schärfte die Spitze mit dem Federmesser. Nach einer ganzen Weile meinte er schließlich: »Ich halte auch nicht viel von feuchten Händen.«
Iselle schnaubte. Doch ein Ruf von Nan dy Vrit bewahrte Cazaril davor, weiterhin ins Kreuzverhör genommen zu werden. Es ging um eine bedeutsame Kleinigkeit, die mit Tüchern und frei umherstreunenden kleinen Perlen zu tun hatte, und beide Damen kehrten in ihre Gemächer zurück.
An kühleren Nachmittagen, wenn keine interessanteren Jagdpartien anstanden, machte Prinzessin Iselle ihren rastlosen Energien Luft, indem sie ihren kleinen Haushalt versammelte und kurze Ausritte in die
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