Chamäleon-Zauber
Graben hatte geschnaubt und damit alles verraten. Er war also doch in die richtige Richtung geflogen, vielleicht von seinem Talent gesteuert. Sein Talent hatte bisher stets unmerklich funktioniert. Es bestand kein Grund, weshalb es das jetzt nicht mehr tun sollte.
Bink konzentrierte sich auf die Richtung, aus der das erste Geräusch gekommen war. Sofort verschwand der Nebel wieder. Offenbar konnte die Zauberin ihre Trugbilder in unmittelbarer Nähe eines konkurrierenden Zauberers nicht so ohne weiteres aufrechterhalten, zumal wenn dieser sich auf die Wahrheit spezialisiert hatte.
»Dich krieg’ ich noch!« schrie ihre Stimme von oben. Dann war der Himmel wieder klar.
Bink kreiste über dem Schloß, das nun wieder in seiner wirklichen Gestalt zu sehen war. Er zitterte noch von der Anstrengung und dem Schock. Das war wirklich knapp gewesen! Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn er die andere Richtung gewählt hätte…
In einem der hohen Türme war ein offenes Fenster, und er flog hindurch. Ein Phönix war ein kraftvoller, ausdauernder Vogel, der sich gut unter Kontrolle hatte. Selbst mit seinem verletzten Flügel hätte er wahrscheinlich jeden Drachen ausstechen können, wenn es allein um Reichweite gegangen wäre.
Seine kleinen Augen brauchten einen Augenblick, bis sie sich an die Dunkelheit im Inneren des Turms gewöhnt hatten. Er flatterte von einem Zimmer ins nächste und entdeckte schließlich den Magier, der über einem dicken Buch brütete. Einen Augenblick lang erinnerte der kleine Mann ihn an Trent, wie er in der Bibliothek von Schloß Roogna gesessen hatte. Beide interessierten sich sehr für Bücher. Waren sie beide zwanzig Jahre wirklich miteinander befreundet gewesen, oder waren sie nur Kollegen?
Humfrey blickte hoch. »Was machst du denn hier, Bink?« fragte er überrascht. Er schien Binks Gestalt nicht zu bemerken.
Bink versuchte zu reden, doch es gelang ihm nicht. Der Phönix war ein stiller Vogel, dessen Magie nicht darin bestand, mit Menschen sprechen zu können, sondern darin, daß er das Feuer überlebte.
»Komm hier rüber vor den Spiegel«, sagte Humfrey und stand auf.
Bink gehorchte. Als er sich dem Spiegel näherte, sah er ein Bild darin. Dieser Spiegel war offenbar ein Zwillingsstück zu dem vorigen, den er zerbrochen hatte, denn er konnte keinerlei Risse oder Kittstellen darin entdecken.
Er sah die Wildnis. Chamäleon lag nackt und schön auf dem Boden und blutete, obwohl ihr Unterleib mit einer primitiven Wundkompresse aus Blättern und Moosen bedeckt war. Vor ihr stand Trent mit gezücktem Schwert und sah einen wolfsköpfigen Mann an, der auf ihn zukam.
»Ja, ich verstehe«, sagte Humfrey. »Der Böse Magier ist zurückgekehrt. Dumm von ihm. Diesmal wird man ihn nicht wieder ins Exil schicken, man wird ihn hinrichten. Gut, daß du mich gewarnt hast, er ist wirklich gefährlich. Ich sehe, daß er das Mädchen erstochen und dich verwandelt hat, aber du hast offensichtlich fliehen können. Gut, daß du so gescheit warst, hierherzukommen.«
Bink versuchte wieder, etwas zu sagen, doch immer noch ohne Erfolg. Er tänzelte auf und ab.
»Willst du mir noch mehr erzählen? Komm mit.« Der gnomartige Magier nahm ein Buch aus einem Regal und legte es auf das andere, das noch auf dem Tisch lag. Er schlug es auf: die Seiten waren leer. »Sprich«, sagte er.
Bink versuchte es erneut. Es war zwar nichts zu hören, aber er sah, wie die Worte in säuberlicher Schrift auf den Seiten erschienen:
Chamäleon liegt im Sterben! Wir müssen sie retten!
»Ach so, ja natürlich«, meinte Humfrey. »Ein paar Tropfen Heilwasser werden da schon genügen. Natürlich verlange ich meinen Lohn dafür. Aber zuerst müssen wir uns mit dem Bösen Magier befassen, was bedeutet, daß wir zunächst ins Norddorf müssen, um einen Betäuber zu holen. Mit meiner Magie bin ich Trent nicht gewachsen!«
Nein! Trent versucht sie zu retten! Er ist nicht…
Humfrey furchte die Stirn. »Du sagst, daß der Böse Magier dir geholfen hat?« fragte er erstaunt. »Das kann ich nur schwer glauben, Bink.«
So schnell wie möglich erklärte Bink Trents Gesinnungswandel.
»Also gut«, sagte Humfrey schließlich resigniert. »Ich verlasse mich also auf dein Wort, daß er in diesem Fall auch in deinem Interesse handelt. Aber ich habe den Verdacht, daß du ein bißchen naiv bist, und jetzt weiß ich nicht, wer mir meinen Lohn zahlen wird. Der Böse Magier wird bestimmt mit Leichtigkeit entkommen, wenn wir einen Umweg
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