Chamäleon-Zauber
Vorsichtig schritt sie von dem ausgetretenen Pfad herunter; ihre Hufe versanken in dem weichen Piniennadelboden. Sie wand sich zwischen zahlreichen dolchdornigen Hirschkeimbäumen hindurch, kam an einer Schlangenpalme vorbei, die sich nicht einmal die Mühe machte, sie anzuzischen, und blieb vor einer Gewirrweide stehen. Nicht zu nahe – das hätte niemand gewagt. »Da«, murmelte sie.
Bink blickte zu der Stelle, auf die sie zeigte. Auf dem Boden lag ein menschliches Skelett. »Mord?« fragte er zitternd.
»Nein, einfach nur Schlaf. Er ist hergekommen, um sich auszuruhen, so wie du das eben wolltest, und er hat sich nie mehr dazu aufraffen können, wieder fortzugehen. Völliger Friede ist eine trügerische Sache.«
»Ja…« hauchte er. Keine Gewalt, kein Leiden – einfach der Verlust der Willenskraft. Warum sollte man sich die Mühe machen, zu arbeiten und zu essen, wenn es soviel leichter war, sich einfach zu entspannen? Wenn jemand Selbstmord begehen wollte, dann war das hier die beste Methode. Aber bisher hatte er noch Grund zum Leben.
»Das ist auch ein Grund, weshalb ich Chester mag«, sagte Cherie. »Er würde solch einem Zauber nie unterliegen.«
Das war gewiß. Es war kein Frieden in Chester. Cherie selbst würde auch nicht unterliegen, dachte Bink, obwohl sie wesentlich sanfter war. Bink spürte die Schlaffheit dieser Atmosphäre, trotz des Skeletts, aber sie widerstand dem Zauber. Vielleicht war die Biologie der Zentauren eine andere – oder vielleicht hatte sie in ihrer Seele eine Wildheit, die ihre engelhafte Gestalt und ihre freundlichen Worte verbargen. Wahrscheinlich war da von beidem etwas. »Verschwinden wir von hier.«
Sie lachte. »Keine Angst, ich bringe dich schon sicher hindurch. Aber komm nicht allein auf diesem Weg zurück. Wenn du einen
finden kannst, dann reise zusammen mit einem Feind, das ist das beste.«
»Besser als ein Freund?«
»Freunde sind friedlich«, erklärte sie.
Oh. Ja, das leuchtete ein. Mit jemandem wie Jama würde er sich niemals unter einem Pinienbaum ausruhen, da hätte er viel zuviel Angst davor, ein Schwert in die Eingeweide gerammt zu bekommen. Aber was für eine ironische Notwendigkeit das doch war: einen Feind aufzutreiben, damit er einen durch einen friedlichen Wald begleitete! »Die Magie schmiedet seltsame Verbindungen«, murmelte er.
Dieser Friedenszauber erklärte auch, warum es hier so wenig andere Magie gab. Die Pflanzen brauchten keine individuellen Schutzzauber, denn niemand würde sie angreifen. Selbst der Gewirrbaum wirkte friedfertig, obwohl er bestimmt zupacken würde, wenn er die Gelegenheit dazu bekam, denn schließlich ernährte er sich auf diese Weise. Es war interessant, wie die Magie verblaßte, wenn das Muß der Selbsterhaltung verschwand. Aber nein – es gab ja Magie hier, mächtige Magie. Es war der gemeinsame Zauber des ganzen Waldes, zu dem jede Pflanze ihren Teil beisteuerte. Wenn man herausbekommen könnte, wie man die Wirkung dieses Zaubers bei sich selbst ausschalten konnte, vielleicht durch einen Gegenzauber, dann durfte man sich hier in völliger Sicherheit hinlegen. Das war es wert, erinnert zu werden.
Sie wanden sich langsam auf den Pfad zurück und setzten ihre Reise fort. Bink schlief zweimal ein und rutschte fast herunter, wobei er jedesmal mit einem Schrecken wieder aufwachte. Er wäre niemals allein durch diesen Wald gekommen. Er war froh, als er sah, wie der Pinienwald sich ausdünnte und statt dessen Hartholzbäume auftraten. Er fühlte sich wacher, gewalttätiger, und das war auch gut so. Härteres Holz, härtere Gefühle.
»Ich frag’ mich, wer das dort hinten gewesen ist«, meinte Bink.
»Oh, ich weiß es«, antwortete Cherie. »Er gehörte zur letzten Welle, hat sich verirrt, ist hierhergekommen und wollte sich ausruhen. Für immer.«
»Aber die Letztweller waren Wilde!« sagte Bink. »Sie haben einfach alles abgeschlachtet.«
»Alle Wellen waren Wilde, als sie hier ankamen, mit einer Ausnahme«, erwiderte sie. »Wir Zentauren wissen das. Wir waren schon vor der ersten Welle hier. Wir mußten euch alle bekämpfen, bis der Bund geschlossen wurde. Ihr hattet keine Magie, aber ihr hattet Waffen, ihr wart zahlreich und gerissen. Viele von uns sind gefallen.«
»Meine Vorfahren gehörten zur ersten Welle«, sagte Bink nicht ohne Stolz. »Wir haben immer Magie gehabt, und wir haben nie mit den Zentauren gekämpft.«
»Mensch, jetzt werd nur nicht angriffslustig, nur weil ich dich aus dem Friedenspinienwald
Weitere Kostenlose Bücher