Chamäleon-Zauber
Natürlich konnte es sein, daß im Holz verborgene Schrauben angebracht waren, aber das erschien ihm doch mehr als umständlich und vor allem riskant. Manchmal ließen einen Schrauben in den unpassendsten Augenblicken im Stich. Vielleicht senkte sich das Tor ja auch in den Boden? Nein, der bestand auch aus Stein. Folglich mußte wohl jedesmal, wenn jemand eintreten wollte, das Ganze beiseite geschafft werden.
Idiotisch! Es mußte eine Attrappe sein! Es würde auch eine sinnvollere Öffnung geben, um einzutreten. Entweder eine magische oder eine körperliche. Er mußte sie nur finden.
Im Stein?
Nein, der war viel zu schwer, und wenn er es nicht sein sollte, dann war es ein Schwachpunkt, durch den ein Feind gewaltsam eindringen konnte. Es wäre sinnlos gewesen, ein solches Bollwerk von einem Schloß zu bauen, um es dann derartig angreifbar zu machen. Aber wo dann?
Bink tastete über das Holz der Torattrappe. Er entdeckte eine Ritze, fuhr mit dem Finger daran entlang: Es war ein Quadrat. Aha! Er drückte mit beiden Händen gegen die Mitte.
Das Quadrat bewegte sich nach innen und fiel schließlich aus seinem Rahmen. Zurück blieb ein Loch, durch das ein Mensch gerade hineinkriechen konnte. Da war also der Eingang!
Bink verlor keine Zeit. Er kletterte durch das Loch. Drinnen fand er sich in einer matt erleuchteten Halle wieder. Und vor ihm lauerte ein weiteres Ungeheuer.
Es war eine Manticora – ein Wesen von der Größe eines Pferdes, mit dem Kopf eines Menschen, dem Körper eines Löwen, den Flügeln eines Drachen und einem Skorpionschwanz. Es war eines der gefährlichsten magischen Ungeheuer, die es gab.
»Willkommen zum Essen, kleiner Krümel«, sagte die Manticora und reckte ihren segmentierten Schwanz in einem steifen Bogen über ihren Rücken. Sie hatte ein merkwürdiges Maul mit drei Zahnreihen, eine in der anderen, doch ihre Stimme war noch seltsamer. Es klang wie eine Mischung von Flöte und Trompete. In gewisser Weise klang sie sehr schön, aber unbegreiflich.
Bink zückte sein Messer. »Ich bin nicht dein Essen«, sagte er mit einem guten Teil mehr Überzeugungskraft, als er tatsächlich besaß.
Die Manticora lachte. Es klang säuerlich-ironisch. »Sonst wird dich wohl keiner verspeisen können, Sterblicher. Du bist hübsch emsig in meine Falle gelaufen.«
Das war er tatsächlich. Aber Bink hatte die Nase voll von diesen sinnlosen Hindernissen, und er vermutete insgeheim, daß sie wahrscheinlich gar nicht so sinnlos waren, auch wenn sich das paradox anmutete. Wenn die Ungeheuer des Magiers sämtliche Besucher verspeisten, dann hätte Humfrey nie etwas zu tun, würde nie etwas verdienen. Und wenn man den Berichten Glauben schenken durfte, dann war der Gute Magier ein ziemlicher Raffzahn, der in erster Linie lebte, um sich zu bereichern; er brauchte diese Wuchereinnahmen, um seinen Reichtum zu mehren. Also war das hier wahrscheinlich nur eine neue Prüfung, genau wie das Seepferd und das Tor. Bink mußte nur die Lösung finden.
»Ich kann jederzeit aus diesem Käfig hinausspazieren, wenn ich will«, sagte Bink herausfordernd. Er zwang sich dazu, nicht vor Zittern die Knie gegeneinanderzuschlagen. »Ist nichts für Leute meiner Größe. Ist mehr was für Ungeheuer wie dich. Du bist der Gefangene, Kauzahn!«
»Kauzahn!« wiederholte die Manticora ungläubig und zeigte dabei ungefähr sechzig ihrer Backenzähne vor. »Du Winselmännchen, dir verpass’ ich einen Millionen-Jahre-Traum!«
Bink lief auf die quadratische Öffnung zu. Das Ungeheuer jagte hinter ihm her und stach mit seinem Schwanz über den Kopf nach ihm.
Doch Bink hatte nur eine Finte geschlagen. Schon duckte er sich vor, auf die Löwenkrallen zu. Damit hatte das Ungeheuer nicht gerechnet, und es konnte nicht mehr mitten im Flug schwenken. Sein tödlicher Stachel grub sich in das Holz des Tores, und sein Kopf wurde durch die Öffnung gedrückt. Seine Löwenschultern verkeilten es säuberlich, und es flatterte hilflos mit den Flügeln hin und her.
Bink konnte nicht widerstehen. Er richtete sich auf, drehte sich um und schrie: »Du hast doch wohl nicht gedacht, daß ich die ganze weite Reise gemacht habe, nur um wieder umzukehren, du halbgares Ungeheuer!« Dann verpaßte er dem Wesen einen schnellen, harten Tritt ins Hinterteil, direkt unter den hochgereckten Schwanz.
Vom Tor erscholl ein Wut- und Schmerzensgebrüll. Doch da war Bink schon weg und lief die Halle entlang in der Hoffnung, daß es hier noch einen menschengroßen Ausgang
Weitere Kostenlose Bücher