CHAMSA - 5 Tage bis zur Ewigkeit (German Edition)
flüsterte er mit schmerzvoller Miene.
Melancholie
der Endgültigkeit
A m nächsten Tag, sie
hatte sich kaum auf den Unterricht konzentrieren können, lief sie nach dem
Läuten der Schulklingel aufgeregt zum Zaun. Sie hob den Stein hoch, achtete
nicht auf die Dornensträucher, die ihren Arm zerkratzten und fischte nach dem
ersehnten Zettel. Gerade, als sie Hakims Nachricht lesen wollte, erklang hinter
ihr lautes Gelächter. Blitzschnell kroch sie aus ihrem Versteck und ließ das
Papier in die Tasche ihrer Jeans verschwinden.
Danach drehte sich
atemlos um. Keine Sekunde zu spät. Ihre Freunde liefen wie üblich mit Leo als
Vorhut über den Sportplatz. Dieser ließ den Ball mit machohaften Gehabe im
Laufen auf dem Boden dribbeln. Als er aufblickte und sie entdeckte, hielt er
mitten in seiner Bewegung inne und taxierte sie finster. »Was treibst du hier«,
fragte er lauernd und kam mit langen Schritten auf sie zu. Unsanft schob er
Hannah beiseite und inspizierte durch den Zaun hindurch die Umgebung. »Hast du
wieder auf den Kameltreiber gewartet?« Sein drohender Unterton brachte sie auf
die Palme. Schon war sie in der Wirklichkeit zurück und sie streckte stolz ihr
Kinn vor.
»Du kannst dir deine
Beleidigungen sparen, Leo. Da du weder mein Bruder noch ein Familienmitglied
bist, steht es dir nicht zu zu wissen, mit wem ich was mache.«
»Hmm, vielleicht sollte
ich zu deinen Eltern gehen und ihnen mitteilen, dass sich ihre einzige Tochter
mit einem Feind trifft und eine lebende Schande für alle Juden ist.« Bei seinen
gehässigen Worten drehte sich Hannah der Magen um. Doch dann erinnerte sie sich
an die Worte ihrer Mutter und ging langsam auf ihn zu.
»Leo«, erwiderte sie um
einen ruhigen Ton bemüht. »Was deiner und so vielen jüdischen Familien angetan
wurde, war falsch. Aber das war vor einer sehr langen Zeit. Wir müssen das nicht
vergessen, aber wir müssen lernen, miteinander zu leben. Was hat ein Junge in
unserem Alter mit der Vergangenheit zu tun?«
Mit einem düsteren
Gesichtsausdruck starrte er sie an. »Nein, Hannah. Das jüdische Volk wird
niemals vergessen. Und wenn ich deinen Kameltreiber noch einmal in unserer Nähe
sehe, werde ich ihn abknallen.«
Mit diesen Worten
beförderte er hinter seinem Rücken eine silberglänzende Waffe zu Tage. Starr vor
Entsetzen verharrte sie in ihren Bewegungen. Leo jedoch schien in seinem Element
zu sein und fühlte sich wahrscheinlich wie James Bond. Er winkelte seinen Arm
leicht an und ging in die Hocke. Danach fuchtelte er mit der Waffe wahllos in
der Gegend rum.
Judith stieß einen
entsetzten Schrei aus und ging hinter Davids Rücken in Deckung. Auch die anderen
wichen angstvoll zurück. Jeder konnte den Wahnsinn in Leos Augen sehen. Einzig
der hünenhafte David ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen, er straffte
seine Schultern und ging mit langsamen Bewegungen, die Waffe nicht aus den Augen
lassend, auf Leo zu. »Lass die Pistole fallen, wir sind nicht deine Feinde«,
stieß er hervor. Bist du übergeschnappt?«
»Nein, bin ich nicht …
Hau ab, keinen Schritt weiter oder ich schieße. Ich werde dich abknallen … und
dich auch«, schrie er hasserfüllt in die Luft und richtete das
9-Millimeter-Kaliber auf den über ihm im blauen Himmel schwebenden Wüstenfalken.
Dessen tiefschwarze samtene Augen suchend auf Hannah gerichtet waren.
Mitten in diesem
aberwitzigen Tumult bemerkte Hannah mit ihrem geschulten Auge, dass ihr irrer
Freund die Waffe nicht entsichert hatte. Ihr Vater hatte ihr in weiser
Voraussicht schon in jungen Jahren auf dem Übungsplatz den Umgang mit
Schießwaffen beigebracht, für den Fall eines Krieges und zur Verteidigung ihres
eigenen Lebens. Ihre Gelassenheit kehrte beim Anblick ihres gefiederten Freundes
schlagartig zurück. Der Falke flog mit einer schnellen Kurve über den Zaun des
Niemandslandes, genau in dem Moment, als Hannah ruhig auf Leo zuging. »Leo, du
bist so ein Idiot, hör auf mit dem Scheiß und gib mir die Waffe.«
Im selben Augenblick
tauchte Hakims Gestalt auf der gegenüberliegenden Seite des Grenzzauns auf.
Beschwörend lehnte er seine Arme gegen den Stacheldraht. »Lass Hannah und deine
Freunde in Ruhe, Leo«, bat er mit eindringlicher Stimme. »Keiner von ihnen hat
dich angriffen und weder ich noch sie sind deine Feinde. Lass es nicht zu, dass
dein Herz von Hass regiert wird. Ich bitte dich, leg die Waffe weg.«
Der Blick, den Leo
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