CHAMSA - 5 Tage bis zur Ewigkeit (German Edition)
sie.
»Wo ist Hakim eigentlich? Wartet er draußen auf dem Gang?«
Ihre Eltern wechselten
einen rätselhaften Blick miteinander, bevor ihr Vater erwiderte: »Hannah, das
musst du geträumt haben. Als ich dich gefunden habe, war niemand bei dir. Und
deine Freunde waren jeden Tag an deinem Krankenbett; aber ein Hakim hat dich
nicht besucht.« Gequält schnappte Hannah nach Luft. Im selben Moment erhöhte
sich der schrille Ton vom Monitor neben ihr und ihr Vater beugte sich alarmiert
über sie. »Hannah, Liebes. Du darfst dich nicht so aufregen. Ich gebe dir jetzt
etwas zum Schlafen. Wir werden morgen weiterreden, okay?«
Abwesend beobachtete
sie, wie er eine Spritze aufzog und sie in den Tropf, der über ihrem Bett hing,
stach. Kurz darauf glitt sie wieder in die Berge aus nebelverhangener Watte
ab.
Die
Erscheinung
I hr Körper fühlte sich
seltsam losgelöst und schwerelos an. Wie aus ferner Vergangenheit nahm sie den
Klang einer leise singenden Stimme wahr. Hannah blieb mit geschlossenen Augen
liegen und stellte fest, dass sie die Worte verstand.
Habibti, mein
Liebling, du bist die Blume
in der Wüste . Dein Name steht geschrieben auf den Mauern meiner Liebe.
Deine Anmut wärmt mein Herz und lässt meine Seele erblühen … Du bist der Atem
meiner Seele …
Es war das gleiche
arabische Liebeslied, dem sie damals auf dem Markt gelauscht hatte, zu dem
Zauber des melancholischen, magischen Flötenspiels. Doch diesmal sang ein Mann
das Lied. Und es war die erregendste Stimme, die sie je gehört hatte – seine
Stimme. Aufgeregt schlug sie die Augen auf und versuchte sich mühsam
aufzusetzen. »Hakim?«, flüsterte sie zaghaft in die Dunkelheit.
Doch das Lied war
verstummt. Nur der silbrigschimmernde Mond warf sein geheimnisvolles Licht in
das Krankenzimmer und schien der einzige nächtliche Besucher zu sein. Traurig
lehnte sie sich in die Kissen zurück, bis ein Rascheln sie erneut hochfahren
ließ. Als sie die Augen öffnete, stand vor ihrem Bett eine verschleierte Frau.
Fragend streckte Hannah die Hand aus.
Die Fremde hob Hannah
zart an den Schultern hoch und schüttelte ein Kissen hinter ihren Rücken, sodass
sie halbaufrecht sitzen konnte. Ihre Hände waren schlank und bronzefarben. »Wer
sind Sie?«, fragte Hannah benommen. In dem Moment vernahm sie das zarte,
melodische Klimpern filigraner Armreifen. Ein erstickter Schrei entfuhr ihrer
Kehle. »Wahida…?«
»Allahu akbar, Gott ist
groß. Aschadu la illaha Allah. Es gibt keinen Gott, außer Gott, Er sei
gepriesen, dass du am Leben und auf den Weg der Besserung bist«, sagte eine
sanfte Stimme, in der die seltsame Vertrautheit der Geborgenheit mitschwang.
»Wahida«, rief Hannah erstickt, »wo ist Hakim und wie bist du hierher gekommen?«
Wahida legte ihren
Schleier ab, setzte sich auf die Bettkante und ergriff ihre Hand. »Meine
geliebte Tochter, ich bin hier, weil heute Nacht der Zeitpunkt gekommen ist, an
dem ich mein Versprechen einlösen muss, das ich Hakim einst gegeben habe«,
erwiderte sie leise. »Denn nur so kannst du das, was passiert ist, verstehen.««
Einen Augenblick zögerte sie, bis sie weitersprach. »Es lässt sich nur schwer in
Worte fassen. Du weißt nicht alles über unsere Familie. Es gibt etwas, was ich
dir erzählen möchte. Erinnerst du dich noch an den weißhaarigen Mann auf dem
Markt und seine Prophezeiung der fünf Tage?«
»Sicher«, antwortete
Hannah. Wie konnte sie diesen gütigen Mann, der dieselben ausdruckstarken Augen
wie Hakim besaß, vergessen haben. Liebevoll strich Wahida ihr über das
verschwitzte Haar.
»Hannah, es existiert
auch noch eine andere Welt, jenseits der unseren. In dieser magischen Welt leben
die Nachfahren der Shaheen, der weißen Wüstenfalken. Die erstgeborenen Söhne des
Shaheenvolkes besitzen das unerschöpfliche Wissen alter astral-physischer
Geheimnisse, das über viele Generationen weitergegeben wurde. Sie haben die
Gabe, mittels der magischen Astrologie der Sterne, sowohl in die Vergangenheit
als auch in die Zukunft zu sehen. Diese Männer heißen Aasims, sie sind die
heiligen Hüter der astrologischen Tradition. Der Legende ihres Volkes nach
glauben sie an zwei Dualseelen, die aus einer einzigen erschaffen wurden und die
im weltlichen Leben ihre Wiedervereinigung ersehnt. Sie glauben, dass alle
Menschen, auch Mann und Frau, aus dieser einen einzigen Seele erschaffen wurden.
Bei der Geburt wird dieses Band durchbrochen.
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