Change for a Kill
Expertisen waren von vielen großen Firmen und sogar der Regierung gefragt gewesen. Jerome hatte nie geheiratet, unterhielt allerdings eine schwierige Beziehung mit einem fünfzehn Jahre jüngeren Koch, die sich am treffendsten mit sie liebten und sie schlugen sich umschreiben ließ. Wenn sie nicht Händchen haltend im Theater gesessen oder durch den Stadtpark von Shonnam geschlendert waren, konnte man sie lauthals streitend auf den Straßen oder im Restaurant antreffen. Sein Lebensgefährte war zugleich der einzige Angehörige. Auf Jeromes Beerdigung war er zusammengebrochen und befand sich seither in einer Klinik, was ihm ein perfektes Alibi für Keylas Ermordung gab. Er hatte sich bei dem Mord an Edward ungefähr fünfhundert Kilometer weiter östlich im Land befunden, um Jerome bei einem Vortrag über den Einsatz der neuesten Generation von Erntemaschinen und deren Einfluss auf Schäden an Flora und Fauna zu begleiten. Darum war er auch nie ernstlich auf der Liste der Verdächtigen erschienen, obwohl er von Jerome ein Vermögen geerbt hatte.
Mittlerweile waren die Befunde aus Labor und Pathologie eingetroffen. Keyla hatte weder Drogen noch Alkohol im Blut gehabt, genauso wenig Medikamente oder irgendwelche anderen verdächtigen Substanzen. Ihre letzte Mahlzeit musste sie länger als vierundzwanzig Stunden vor ihrem Tod eingenommen haben und stimmte mit dem überein, was sie laut Aussage ihrer Eltern gefrühstückt hatte, bevor sie das Haus verließ. Der Todeszeitpunkt wurde auf zwischen zwölf und fünfzehn Uhr eingeschätzt, Todesursache war Genickbruch, wie bei allen Opfern. Es gab keine Abwehrwunden, der Täter hatte sie demnach überrascht – wie alle Opfer. Die Schnitte waren ihr post mortem zugefügt worden, Führung und Tiefe der Wunden ließen keinen Zweifel, dass es wieder der derselbe Täter gewesen sein musste. Keine neuen Erkenntnisse also, lediglich viele Fragen. Warum war sie in die Steppe gelaufen, hatte dort übernachtet, aber nichts gegessen? Wo waren ihre Sachen? Es war und blieb frustrierend.
„Vier Morde und noch immer keinen Verdächtigen, keine heiße Spur, nichts!“, knurrte Rick angewidert und trat wuchtig gegen die Wand. „Als nächstes wird der Mob kommen und uns lynchen, weil wir ihre Babys nicht beschützen können!“
„Beruhig dich!“, befahl Annika und packte ihren Lebensgefährten am Arm, den er gerade nach einem Stuhl ausgesteckt hatte. Zweifellos, um ihn quer durch den Raum zu schleudern.
„Wo bleiben eigentlich Dave und Esther?“, fragte Dylan mit Blick auf die Uhr.
„Die beiden wollten Keylas Eltern um eine möglichst genaue Beschreibung der verschwundenen Sachen bitten, idealerweise mit Foto. Sie müssten eigentlich gleich hier sein“, meinte Annika und setzte sich zurück auf ihren Platz. Sie hockte gemeinsam mit Rick, Larry und Mike vor einem Aktenberg, deren Aufschriften wie „Zeugenaussagen 3. Mai“ oder „Kontaktliste Sally“ nach viel mühsamer Detailarbeit klangen. Samuel hatte selbst häufig genug jedes einzelne Wort in hunderten Seiten widersprüchlicher Zeugenaussagen analysiert, um genau zu wissen, wie anstrengend und zeitraubend das sein konnte. Hoffentlich würde er bei den alten Tatorten etwas finden, einen Fingerzeig, eine Eingebung, irgendetwas!
Nacheinander betrachtete er die vier toten Gesichter der Opfer, deren Tatortfotos an den Tafeln hingen. Und da war es wieder, das Gefühl, vorwurfsvoll angestarrt zu werden, diesmal von allen vier Ermordeten zugleich. Was war es, was sein Unterbewusstsein ihm mitteilen wollte? Ob es mit den Fotos zusammenhing? Am liebsten würde er sein Aufnahmegerät zücken, das er stets überall mithin schleppte, und alle Eindrücke verbal festhalten. Das kam nicht infrage, er wollte nichts tun, was die Aufmerksamkeit der anderen negativ auf ihn lenken könnte.
Samuel ging zurück zu der Schreibtischecke, die Dylan ihm frei geräumt hatte und nahm aus den Fallakten alle vorhandenen Bilder heraus. Nebeneinander gelegt gab es etwas, was die Leichen gemeinsam hatten, obwohl sie zu Lebzeiten in Geschlecht, Alter, Rassen- und Standeszugehörigkeit sehr unterschiedlich gewesen waren.
„Friedlich“, murmelte er halblaut. Er spürte, wie sich alle Anwesenden zu ihm umwandten.
„Friedlich“, wiederholte er und wies nacheinander auf die Gesichter der Toten. „Schaut, wie sie daliegen. Auch Keyla, obwohl sie vom Mörder nicht arrangiert wurde. Wo ist eigentlich das psychologische Täterprofil? Ich habe es bislang
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