Change
Brüder, die bis zum letzten Moment meine Strafe mildern wollten, mussten mich verlassen. Sie besaßen keinen Einfluss auf das Urteil. Dennoch konnten sie erwirken, dass Luzifer ebenfalls Schuld angelastet wurde. Der gefallene Erzengel war der Letzte, der mich betrachtete, bevor das Urteil gesprochen wurde. Es stand schon in aller Augen fest, nichts und niemand war in der Lage, den Herrn umzustimmen. Und ich versuchte es auch nicht.
„Ich hatte Mitleid.“, war meine Rechtfertigung für mein Handeln. Unzureichend, bitter und schal schmeckten die Worten auf meiner Zunge, doch schließlich stand ich auf, in Erwartung des Endes. In Erwartung meines Falls. Einen winzigen Moment zögerte der Herr, dem ich nichts mehr zu sagen hatte – ich war zu schwach, aller Kräfte bereits beraubt. Auch meine Flügel hatte ich eingebüßt. Nichts Engelhaftes haftete noch an mir. Und doch richtete der Herr noch ein paar letzte Worte an mich. Sie sollten mir nicht lange im Gedächtnis bleiben – vielleicht bildete ich sie mir auch nur ein.
„Ich verurteile dich für dein Eingreifen in göttliches Tun. Doch ich verurteile dich nicht dafür, dass du Gutes tun wolltest. Vollende dein Werk.“
Die Worte hallten noch lange in meinem Kopf nach, verschwanden nur langsam und hinterließen nichts.
Die Schwerelosigkeit tilgte alles. Der Fall nahm mir alles. Nichts existierte mehr – nicht einmal die Zeit. Ich war in einer Zeitblase gefangen, in der ich von der realen Welt abgeschnitten war. Und doch dauerte dieser Moment nicht ewig, auch wenn ich, gefangen und unfähig, mich zu rühren, diesen Eindruck hatte.
Die lähmende Schwerelosigkeit wich, stattdessen zerrten immer stärker andere Kräfte an mir und meinem Körper. Wind, beißend und kalt, unvergleichlich mächtig, spielte mit mir, ließ mich meine Schwäche spüren. Gleichzeitig fühlte ich die Geschwindigkeit, die immer mehr zunahm und mich dem Ort näherbrachte, der mein Bestimmungsort sein sollte. Mein Gefängnis. Meine lebenslängliche Strafe.
Als ich aufkam, hatte ich selbst das vergessen, was mich an diesen Ort gebracht hatte. Ich war mir nicht bewusst, was ich hier tat. Ich wusste weder, wo, noch warum ich hier war. Warum ich hier stand, barfuß und außer einem zerfetzten schwarzen Gehrock nackt, auf dem zerborstenen Pflaster einer schmalen, ausgestorbenen Straße, mitten in der Nacht, beschienen von einer funzeligen Straßenlampe. Ich wusste nicht, was dies für ein Gefühl war, das sich von außen in meinen Körper fraß, meine Haut taub werden ließ und meine Muskeln unkontrolliert zittern ließ. Ich wusste nicht, wie ich aussah – in der Dunkelheit erkannte ich nur meine Hände, die mit vielen kleinen, frischen Verletzungen versehen waren und sich nur ungelenk bewegen ließen. Das schwarze Haar, das mir ins Gesicht fiel, als ich meinen Kopf umwandte, fühlte sich fremd an, es peitschte mir in die Augen, die ich erschrocken schloss.
Die Luft, die ich mit großer Mühe in meine Lunge sog, roch unvertraut. Ein bitterer, scharfer Geruch, vermischt mit etwas schwerem-süßlichen und etwas leicht säuerlichen dominierte die Atemluft, die ich durch meine bebenden Nasenflügel einsog.
Endlich trat etwas aus den Untiefen des Vergessens an die Oberfläche meines Geistes, eine winzige doch bedeutende Erkenntnis ergriff Besitz von mir. Ich war mir selber nicht länger fremd, ich erkannte mich selbst, wusste, wer ich war – Michael. Ich kannte meinen Namen, sowie den Namen des mich quälenden Schmerzes – es war die Kälte, die mich frieren ließ.
Mit meinem Namen tauchte noch etwas anderes vor meinem inneren Auge auf. Etwas unglaublich viel Greifbareres als das bloße Wissen meines Namens.
Es war das Bild und alles gesammelte Wissen über einen Menschen, den ich beschützen musste – dies flüsterte mir eine innere Stimme ein, alt, weise und traurig. Der Nachhall alten Wissens, alter Erfahrungen, verklungen, verhallt, nur die verblasste Spur eines Echos. Doch ich orientierte mich an diesem Klang, nahm ihn in mir auf. Verinnerlichte, was mir gesagt wurde.
Dann wurde ich mir des Schmerzes bewusst, der im inneren meines Körpers aufflammte. Brennend, stählern, unerträglich intensiv krampfte er mein innerstes zusammen. Keuchend griffen meine kribbelnden, tauben Hände zu der Stelle, an der der Schmerz am quälendsten stach – meine linke Brust. In mir krampfte sich alles zusammen, meine Lunge versagte den Dienst, keine Luft ließ sich in meinen gepeinigten Körper
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