Chaosprinz Band 1
Raum.
»Wie meinst du das?« Ich verstehe seine Frage nicht ganz. Müde lasse auch ich mich nach hinten sinken, ein breites Kissen im Rücken, und drehe den Kopf zu ihm. Wir sitzen eng nebeneinander, unsere Schultern berühren sich fast.
»Was wünschst du dir, wenn du von Familie sprichst?«, konkretisiert er seine Frage.
»Hm, einen Ort, an dem man absolut zu Hause ist. Ich wünsche mir einfach, von diesen Menschen bedingungslos geliebt zu werden, ein fester Teil ihrer Gemeinschaft zu sein.«
»Hm, ich fürchte, ich muss deine Träume zerstören. Bedingungslose Liebe? Und was ist mit Verantwortung, Erwartungen, einengenden Traditionen und fester Rollenverteilung? Auch alles Elemente des Familienlebens, die du scheinbar vergessen hast.« Seine Stimme klingt ruhig.
»Nein, aber…«
»Nichts aber . Ich kannte mal einen alten Mann, er hat früher bei uns in der Straße gewohnt. Ein Einzelgänger, verbittert und einsam. Er hatte keine Kinder, lebte allein und mied jeden Kontakt zu den Nachbarn. Als er starb und beerdigt wurde, hat das niemanden interessiert, niemand kam zu seiner Beerdigung, niemand bis auf einen siebenjährigen Jungen. Das war sein einziger Freund. Er hat ihn wirklich gemocht! Der Junge ist jeden Tag im Sommer zu ihm gekommen und saß dann schweigend neben ihm auf der Terrasse hinter seinem Haus. Behalte du deine Großfamilie, ich bevorzuge lieber einen einzigen, wahren Freund.«
Wir haben unsere Gesichter einander zugewandt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Grau schimmern mich seine Augen an, ich kann so tief hineinschauen, dass ich fürchte, mich in ihnen rettungslos zu verlieren. Es ist das zweite Mal, seit wir uns kennen, dass er mich so offen, schutzlos und verletzlich ansieht… Das erste Mal hat er dabei mit mir geschlafen…
»Aber ich dachte… ich habe gedacht… Familie und Freunde sind dir doch so wichtig«, stammle ich leise.
»Sie sind mir wichtig! Keine Frage, die Dinge sind nur deutlich komplizierter, als du dir das vorstellst, Bambi. Und was Freunde angeht: Ich habe eine Menge gute Kumpels, viele Klassenkameraden, mit denen ich klarkomme und gut feiern oder abhängen kann, aber das sind noch lange keine Freunde. Ich habe nur einen einzigen Freund: Tom!«
Ich erwidere seinen ernsten Blick. Die Worte haben mich aufgewühlt, völlig überrascht. Das Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen, ist geradezu überwältigend.
»Nein, du hast zwei Freunde«, flüstere ich leise. Er stutzt, dann sehe ich, wie er versteht, seine Miene sich aufhellt, er beginnt zu lächeln. Mit roten Wangen drehe ich den Kopf von ihm weg, schaue schnell nach vorne. Er sagt immer noch nichts und ich knete nervös meine Finger. Mein Herz klopft laut.
»Es sei denn, du magst nicht… also, du magst mich nicht…«, nuschle ich schnell.
Mit einem Ruck beugt er sich zu mir rüber. Seine Hand hält mein Kinn fest, seine Lippen drücken sich sachte auf meine Wange. Sie verweilen dort einige Sekunden lang. Heiß glüht die Stelle, die sein Mund berührt. Die Hitze breitet sich in meinem ganzen Gesicht aus und sie will auch nicht verschwinden, als er sich von mir löst und aufsteht.
»Ich bin müde. Wir sehen uns morgen. Gute Nacht«, flüstert er leise und wirft mir noch schnell einen undefinierbaren Blick zu. Ich will nicht, dass er geht, aber ich weiß nicht, wie ich ihn zum Bleiben überreden soll. Hektisch setze ich mich auf, sehe ihm nach.
»Alex?«
Er dreht sich zu mir um.
»Der Junge, der allein zu der Beerdigung des alten Mannes ging… warst das du?«
Er lächelt.
»Nacht, Bambi!« Dann ist er im Dunkeln verschwunden.
Aufgewühlt und verwirrt bleibe ich alleine auf dem breiten Sofa zurück. Aber irgendwie bin ich gerade auch glücklich. So glücklich! Meine Wange kribbelt und kitzelt wie verrückt und in meiner Brust sitzt eine erregende Wärme.
Ich würde ihm gerne folgen, mich zu ihm legen, reden, fragen, herausfinden, was sich sonst noch so hinter diesem Traumkörper, dem blonden, weichen Haar und den schönen Augen verbirgt. Ich will ihn verstehen, ihn glücklich machen. Ich möchte gemeinsam mit ihm einschlafen… Aber so ist es wahrscheinlich besser.
Seufzend blicke ich wieder auf den Fernsehbildschirm. Ich lasse die verschiedenen Fotos an mir vorbeisausen. Dann ist es wieder da: Das Bild von uns auf der Parkbank.
20. Kapitel
Zwei Fragen, oder: Gibt es Treue und wo ist Gustav?
Der Boden vibriert. Fühlt sich an, als würde er beben. Sehr sanft natürlich, aber trotzdem stark genug,
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