Chaosprinz Band 1
habe und nach Berlin gezogen bin, konnte ich endlich so leben, wie ich wollte.« Er erzählt das alles vollkommen locker, schämt sich kein bisschen. »Meine Eltern tun immer noch so, als sei das alles einfach nur eine Phase. Wahrscheinlich wird sich daran auch niemals etwas ändern.«
Ich nicke stumm. Das würde erklären, warum Frau Einsele meine Nachricht nicht an Kim weitergeleitet hat.
»Ich habe dich immer bewundert«, sagt er plötzlich und völlig unvermittelt. »Du hast immer offen zugegeben, dass du schwul bist. Die ganze Schule hat's ja gewusst. Du warst noch so jung und hattest trotzdem keine Angst.« Wir müssen wieder anhalten. Er zieht die Handbremse an und dreht den Kopf zu mir, seine blauen Augen funkeln im Dunkeln des Wagens.
»Ich war nicht mutig… ich…«, stottere ich mit roten Wangen.
»Doch, warst du! Bist du!«
Ich muss an Pa und Bettina denken, ich lüge sie immer noch an. Ist das mutig? Wohl kaum. Und dass ich keine Angst hatte, stimmt so auch nicht ganz. Ich glaube viel eher, ich hatte einfach Glück…
»Warum hast du mich denn nie angesprochen? Ich meine, wenn du doch gewusst hast, dass wir beide…« Meine Stimme wird immer leiser. Ich stocke.
»Wie gesagt, ich hab's eigentlich total verdrängt, bis ich von zu Hause ausgezogen bin.«
»Hm…«
»Was nicht bedeuten soll, dass ich dich nicht schon immer sehr süß fand«, erzählt er freimütig und ohne rot zu werden weiter. »Und als du mich dann in dieser Nacht um einen Kuss gebeten hast…« Er lacht leise. Ich spüre die Hitze in meinem Kopf. Ich verglühe gleich. »… da war ich sehr glücklich…«
Er war glücklich. Er wollte mich küssen. Die Wände des Wagens scheinen sich zu verschieben. Plötzlich ist es hier drinnen sehr eng. Viel zu eng für zwei Menschen. Sein Geruch benebelt mein Hirn, seine Stimme dringt unbarmherzig in meine Ohren, seine Worte lassen mein Herz hüpfen.
»Hast du noch manchmal daran gedacht? An den Kuss?«, fragt er rau.
»Ich… ja! Aber ich hätte nie erwartet, dass du…«, stottere ich.
»Dann konnte ich dich heute ja gleich doppelt überraschen.« Er lacht. Es klingt befreit und ich spüre, wie sich auch in mir etwas befreit, an die Oberfläche kämpft.
»Shit, wir sind vorbeigefahren. Sorry, ich hab nicht aufgepasst.« Im Seitenspiegel sehe ich noch das Haus, in dem Manu und Marc wohnen. Es liegt bereits hinter uns.
»Macht doch nichts«, sagt Kim freundlich. Wir müssen der Einbahnstraße folgen, dann fährt Kim eine Runde um den Block und schließlich finden wir sogar noch eine Parklücke ganz in der Nähe des Hauses.
»Mit Parken ist hier immer schlecht«, erkläre ich Kim, als er den Motor ausmacht.
Wir steigen aus. Die Nachtluft ist kühl. Ich fröstle und ziehe mir meine dünne Jacke über das Shirt.
»Kalt?«
»Es geht.«
Er ist so aufmerksam. Langsam laufen wir nebeneinander her. Mein Herz schlägt aufgeregt und freudig.
»So, nun musst du mir aber ein bisschen was über deine Freunde erzählen, damit ich gleich nicht so doof dastehe«, meint Kim nach einigen Sekunden des Schweigens.
»Also, Marc und Manu sind Ende zwanzig, schwul, seit Jahren miteinander liiert und haben ein Herz für Tiere. Manu ist der liebste Mensch der Welt und Marc… Marc fühlt sich dazu berufen, einen anständigen erwachsenen Mann aus mir zu machen…«
Kim lacht. »Und wie stehen seine Chancen?«
»Hm, er ist sehr bemüht, aber ich glaube, er hat sich da eine Menge zugemutet.« Ich grinse.
»Das glaube ich auch«, sagt Kim und sieht mich frech von der Seite her an.
»Wie dem auch sei, die beiden sind wahnsinnig nett. Sie haben mich sofort in ihre Clique aufgenommen und kümmern sich wirklich liebevoll um mich. Ich kann immer zu ihnen kommen, wenn es mir mal nicht gut geht…« Wir stehen vor der großen Haustür. Die Hände in den Hosentaschen vergraben und nah beieinanderstehend, sehen wir uns an.
»Und passiert das öfter?«, fragt er.
»Was?«
»Dass du dich zu ihnen flüchten musst, weil es dir schlecht geht?«
Ich schlucke. Seine fröhlichen, blauen Augen dringen tief in meine ein. Er kommt langsam näher. »Bist du hier glücklich?«
Schnell senke ich den Blick. Er macht mich nervös.
»Hm, glücklich? Ja, meistens schon…« Ich schlucke den großen Kloß hinunter, der sich in meinem Hals querstellt und mir in der Kehle schmerzt.
»Du vermisst deine Mutter?« Kim sieht mich verständnisvoll an.
»Ja.« Ich nicke. Das tue ich wirklich. Mit Ma ist alles irgendwie immer
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