Chaosprinz Band 1
Sturm und Drang. Seine Impulsivität und sein Egoismus hindern ihn daran, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Er denkt, nur weil er etwas will, kann er es auch erreichen. Die äußeren Umstände, aber auch die Gefühle und Prinzipien von Luise sind ihm völlig gleich, er bedenkt sie nicht.« Alex beendet seine kleine Rede voller Überzeugung.
Impulsiv… egoistisch… keine Rücksicht auf Prinzipien… Wie von selbst hebt sich meine Hand.
»Tobi, ja, wie sehen Sie das?« Bäumchen nimmt mich dran. Ja, also, wie sehe ich das eigentlich?
»Ferdinand ist also Schuld daran, dass ihre Beziehung gescheitert ist?«, frage ich und merke, wie ich zittere. Eine rhetorische Frage. Ich spüre, wie sich Alex neben mir aufrichtet. »Nur, weil er impulsiv ist? Er ist einfach ehrlich. Er liebt Luise. Stände, Familien und gesellschaftliche Verpflichtungen sind ihm egal. Er will mit der Frau, die er liebt, zusammen sein. Und dafür würde er eben alles tun. Kann man ihm dafür die Schuld geben?« Ich sehe Baummann an, die Frage richtet sich aber an den Arsch neben mir…
Und er reagiert prompt: »Darum geht es ja nicht. Er ignoriert einfach die Position und die Gefühle von Luise, ist nicht in der Lage, sich in sie hineinzuversetzen. Das ist sein Problem. Ferdinand begreift einfach nicht, dass er in einer festen Weltordnung lebt, die er nicht einfach so umgehen kann. Und selbst wenn er es kann, Luises Glauben ist eben ein anderer.« Auch Alex sieht stur nach vorne, starrt Baummann an, der ihm interessiert zuhört.
»Und was ist mit Luise?«, frage ich gereizt. Baummanns Blick schwenkt überrascht zu mir. »Sie steht sich selbst im Weg, setzt ihren christlichen Glauben und ihr Bürgertum über Ferdinand und ihre Liebe.«
»Hat sie denn eine andere Wahl?« Alex unterbricht mich schnell. »Sie schützt ihre Familie und zudem hat sie auch einen gewissen Stolz als Bürgerin. Was ist daran falsch, wenn man die Prinzipien einer Gesellschaftsschicht vertritt?«
»Nichts, doch wenn man es aus reiner Feigheit tut… Luise hätte auch kämpfen können, aber sie hat vorher aufgegeben. War wahrscheinlich der einfachere Weg ! « Nun sehe ich ihn doch an. Seine grauen Augen funkeln.
Baummann nickt ein bisschen verwirrt. »Sehr interessant. Äh… sonst noch jemand?« Die Klasse schweigt. Alex und ich starren uns an.
Tom hebt den Arm. »Luise ist nicht feige und sie liebt Ferdinand, doch es stimmt schon, sie fühlt sich ihrer Familie gegenüber sehr stark verpflichtet. Sie ist die einzige Tochter, das einzige Kind, ihre Eltern brauchen sie. Es werden viele Erwartungen an sie gestellt. Und Ferdinand hat eine ganz andere Erziehung gehabt. Er ist aufgeklärt und frei. Er schafft es nur nicht, sich in Luises Situation hineinzuversetzen…«
Ich verdrehe die Augen. War ja klar… Mit dem Ellenbogen fordere ich Lena auf, nun auch mal etwas zu sagen.
»Ähm…«, macht sie schnell und ziemlich überfordert. »Luise kennt aber doch ihren Ferdinand, sie liebt ihn ja wegen seines leidenschaftlichen Charakters. Und sie hätte bestimmt die Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen, ihm alles zu erklären. Wenn sie ehrlich mit ihm gesprochen hätte, dann wäre die Situation vielleicht anders verlaufen. Doch sie lässt ihn hängen, erklärt ihm nichts und verwirrt ihn dadurch noch mehr… Er weiß einfach nicht, woran er ist…«
Baummann nickt wieder und schaut von einem zum anderen.
»Wieso muss sie alles erklären?«, fragt Alex kühl. »Er kann ihre Entscheidung so, wie sie getroffen wurde, einfach nicht akzeptieren. Das sollte er aber. Und schon sind wir wieder bei seinem Charakter, der im Endeffekt Schuld an dem Desaster ist.«
Ich schnaube wütend. Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. »Er glaubt an eine gemeinsame Zukunft mit der Person, die er liebt, und das ist sein Fehler?«, zische ich.
»Sein Fehler ist, dass er keine Tatsachen akzeptieren kann und es ihm an Feingefühl fehlt«, faucht Alex.
»Er ist sehr feinfühlig«, kommt mir Lena zu Hilfe.
»Nur, wenn es um seine eigenen Gefühle geht«, wirft Alex ein.
»Luise ist eben in einer Situation, in der sie nicht einfach so handeln kann, wie sie will«, meint Tom ruhig.
»Luise ist eine verklemmte, blöde Kuh, die nicht ihren Teil der Verantwortung tragen will und sich als armes Opfer sieht!« Alle sehen mich an. Ich werde rot. Hätte wohl nicht so laut werden sollen…
Baummann räuspert sich. »Ähm… toll, wie intensiv Sie sich in dieses Thema hereinversetzt haben...«
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