Chaosprinz Band 1
Er schaut uns vier an. »Nun wollen wir aber vielleicht mal jemand anderes zu Wort kommen lassen, oder?«
Der Rest der Klasse schweigt. Alle sind ein bisschen verwirrt. Anja starrt ihren Freund an.
Keiner traut sich, etwas zu sagen. Unser Auftritt hat die anderen wohl ziemlich verunsichert.
Ich knete meine Finger. Bin schrecklich aufgebracht. Im Augenwinkel kann ich Alex' linke Hand erkennen. Sie spielt hektisch mit einem Kugelschreiber. Ich würde sehr gerne aufstehen und eine Runde ums Schulhaus joggen, den Kopf wieder freibekommen.
Die restliche Doppelstunde verläuft ohne weitere Eskalationen. Alex und ich schweigen und halten unsere Meinungen zu Luise und Ferdinands Liebesdrama zurück. Als die Schulglocke erklingt, stopfe ich meine Sachen schnell in die Tasche und stehe auf. Alex erhebt sich zur selben Zeit. Ich remple ihn ein bisschen an, als ich an ihm vorbeieile. Hoffentlich hat's wehgetan…
Draußen auf dem Gang holen mich Martin und Lena ein.
»Was für eine komische Diskussion«, stöhnt Lena und weiß scheinbar nicht, ob sie lachen oder weinen soll.
»Wieso?« Martin, der neben ihr geht. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum ihr euch so ereifert habt. Ich meine, das Buch ist ja mal voll langweilig und die beiden Hauptpersonen gehen mir auf die Nerven mit ihren ständigen Übertreibungen und dem ganzen Drama…«
Er seufzt entnervt auf. Lena und ich schauen uns an und müssen dann doch beide lachen.
»Oh, Martin!« Ich schüttele den Kopf. So machen wir uns auf den Weg in den Kunstsaal. Wir sind die ersten. Ich lasse mich auf dem Boden nieder, den Rücken an die kühle Steinwand gelehnt.
Die Härte und Kälte der Wand beruhigt mich ein bisschen, bringt mich zurück auf den Boden. Ich atme nun entspannter. Martin und Lena sitzen neben mir. Wir schweigen, jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. In kleinen Grüppchen gesellen sich unsere Mitschüler nach und nach zu uns. Sie reden über mich. Ich spüre ihre Blicke.
Die Traube aus Schülern löst sich auf, geht auseinander und lässt Jasmin durch. Sie trägt einen großen Karton im Arm, scheinbar bis oben hin gefüllt mit Ölfarben. Sie drückt Alex die Kiste in die Arme und sucht in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Ist immer so. Wenn es darum geht, etwas zu halten, vorzuführen oder zu helfen, wählt sie immer Alex aus. Sie lächelt ihn vertraulich an… flirtet sogar mit ihm… irgendwie…
Es regt mich auf. Ich finde das so dreist. Ich meine, mal ganz abgesehen von dem enormen Altersunterschied und der Tatsache, dass sie seine Lehrerin ist, hatte sie eine Affäre mit seinem Stiefvater. Sie belügt und betrügt Alex' geliebte Mutter und ihre angeblich beste Freundin… Ich kann sie nicht ausstehen.
Jasmin öffnet die Tür. Langsam gehen wir in den großen Kunstraum. Ich trotte unlustig hinter Lena her, als mich etwas Hartes heftig an der Schulter trifft. Alex rauscht mit der Kiste im Arm an mir vorbei. Er hat mir das Ding mit Absicht ins Kreuz gerammt. Ich starre böse auf seinen Hinterkopf. Er tut so, als würde ich überhaupt nicht existieren. Das kann er ja besonders gut. Schwer lasse ich mich auf meinen Platz fallen.
Auf ihren hohen Pumps tippelt Jasmin durch die Reihen und erklärt die neue Aufgabe für die nächsten Wochen. Wir sollen einen Künstler und seine Werke vorstellen und interpretieren. Keinen Monet und keinen Van Gogh, sondern lebende Künstler aus der Region. Laien, die zeichnen, modellieren, schnitzen oder bauen. Die Aufgabe besteht darin, die Intention hinter ihrem Schaffen herauszufinden und zu präsentieren.
»Ich kenne keine Künstler«, murre ich.
Lena lacht. »Ich auch nicht.«
»Mein Vater organisiert jedes Jahr eine Ausstellung von Malern aus München, die dann im Foyer der Bank stattfindet. Ich werde ihn mal nach ein paar Adressen fragen…« Martin wirkt ganz zuversichtlich.
»Gute Idee. Und ansonsten werde ich einfach meine kleine Schwester präsentieren. Emma kann wunderschöne Einhörner malen.«
Jasmin fordert uns auf, nach vorne zu kommen. »Bitte holen Sie sich hier Ölfarben und Pinsel ab. Ich möchte, dass Sie sich einfach ein bisschen mit diesen Materialien vertraut machen. Probieren Sie einiges aus. Arbeiten Sie mit Verdünnungen, mischen Sie die Farben… einfach rumexperimentieren…«
Wir stehen auf und watscheln nach vorne. Alex und Anja schieben sich an uns vorbei. Galant lässt er sie vorangehen. Seine Hände berühren zart ihre schmalen Schultern. Ich will es ja eigentlich gar nicht…
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