Chaosprinz Band 1
Und ab heute bist du wohl auch ein Teil davon.«
Ich nicke und ignoriere das heftige Gefühl der Unsicherheit, das sich zweifelnd in meinem Magen aufbäumt. Und apropos Familie…
»Wo sind denn alle? Es hat mich keiner geweckt, ich dachte, wir würden gemeinsam frühstücken.« Ohne es zu wollen, klingt der Ton meiner Stimme irgendwie vorwurfsvoll.
Martha macht auch sofort ein betroffenes Gesicht und das, obwohl sie nun wirklich nichts für meine Laune kann. Sie reicht mir eine Tasse mit frischem Kaffee und ein liebevoll geschmiertes Butterbrot.
»Samstags frühstückt die Familie nie zusammen. Dein Vater musste noch einmal in die Bank fahren – ein wichtiges Kundengespräch. Und Bettina und Elena sind mit den Kleinen beim Tennistraining.«
Ich stellte mir die kleine Emma mit einem Tennisschläger in der Hand vor, der fast so groß wie sie selbst ist.
»Sind die beiden liebe Kinder?«
Martha beginnt versonnen zu lächeln. »Oh ja, Timmy und Emma sind entzückend. Schon als Babys haben sie kaum geschrien, sie waren immer ausgesprochen brav. Und wie nett sie miteinander umgehen: Kein Streit, kein Gezanke und sie hängen unheimlich an Alex. Er ist ihr Held. Sie himmeln ihn an und er würde alles für sie tun. Er beschützt sie, liest ihnen vor, erzählt ihnen Geschichten… wirklich ganz lieb.«
Mein Kinn auf der Hand abgestützt, lausche ich Marthas Erzählungen. Mir gefällt, was ich höre. Unweigerlich macht sich meine Fantasie wieder selbstständig. Vor meinem inneren Auge entsteht das Bild eines auf einem weichen Teppich sitzenden Alex. Er hält ein dickes, altes Buch in den Händen und liest mit ruhiger, voller Stimme ein romantisches Märchen vor. Die Kinderaugen strahlen und betrachten das schöne Gesicht ihres Bruders voller Bewunderung und Liebe.
Dann sind die Zwillinge plötzlich verschwunden und statt ihrer sehe ich mich selbst auf dem Teppich liegen. Mein Kopf ruht auf Alex' Oberschenkel. Mit einem Lächeln, das definitiv mehr verspricht, legt er das Buch beiseite. Seine Hände wandern in mein Haar, spielen mit den Strähnen. Dann greift er nach meinem Kinn, zwingt mich dazu, ihn anzusehen. Langsam beugt er sich mir entgegen, sein Gesicht kommt immer näher, mein Herz beginnt zu klopfen…
»Tobias? Tobias? Ich habe dich gefragt, ob du noch mehr Geschwister hast?«
Oh Scheiße, ich bekomme rote Wangen und fahre mir schnell mit der Hand über den Mund. Hoffentlich habe ich nicht gesabbert… Mann, wollte ich nicht eigentlich alle Alex-Gedanken aus meinem Hirn und meinem Herzen verbannen? Blöde, hormongesteuerte Fantasien. Verdammter Notstand…
Martha schaut mich immer noch etwas besorgt an. »Alles in Ordnung?«
»Ja.« Ich nicke schnell. »Alles okay, ich bin nur noch etwas verschlafen. Ach, und nein, meine Ma und ich waren immer nur zu zweit.«
»Naja, jetzt hast du ja eine richtige Familie. Ihr werdet schon zueinanderfinden, davon bin ich überzeugt. Man braucht nur etwas Geduld…« Sie lächelt mich immer noch an, doch irgendwas an ihrem Blick verrät mir, dass es ihr schwer fällt, an ihre eigenen Worte zu glauben. Sie will mir nur Mut machen.
Ich habe mich gerade entschlossen, sie auf ihre offensichtlichen Zweifel anzusprechen, da ertönt lautes Gepolter vor der Küchentür. Ein großer Mann mit einem dichten, grauen Vollbart öffnet die Tür, die direkt in den Garten führt, und klopft sich den Schmutz von den Schuhen. Er hat die Ärmel seines karierten Hemdes nach oben gekrempelt und gibt uns somit freie Sicht auf seine stark behaarten, braungebrannten Unterarme. Sie sind vernarbt und muskulös, aber was mich wirklich beeindruckt, sind seine großen, breiten Hände. Mit den dunklen, rauen Fingerkuppen sehen sie beinahe wie Schaufeln aus. Als ich aber in sein sonnenverbranntes Gesicht sehe und mich die blauen Augen unter grauen, buschigen Augenbrauen anstrahlen, weiß ich sofort, dass vor diesen riesigen Händen keiner Angst zu haben braucht.
»Tobi, das ist Karl, unser Gärtner und Hausmeister«, stellt mich Martha dem älteren Mann vor. Karl wischt sich seine breiten Hände an der verschmutzten Latzhose ab, ehe er mir die rechte entgegenstreckt.
»Na, Tobi, wie findest du es hier bei uns?« Karl schaut prüfend auf mich herab.
»Gut. Schön. Wirklich.« Ich weiß, ich habe zu schnell geantwortet.
»Es dauert einfach alles seine Zeit…« Martha sieht uns nicht an, während sie die Spüle säubert und die benutzten Handtücher zum Trocknen aufhängt.
»Ich denke auch…«
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