Chaosprinz Band 1
Karl kratzt sich den dichten Bart. »Wenn wir dein Zimmer von dem alten Gerümpel befreit haben und es einen neuen Anstrich bekommen hat, dann wirst du dich ganz schnell wie zu Hause fühlen.« Karl zwinkert mir zu und kaut dann auf einem Stückchen Karotte herum.
Ich bin den beiden für ihre lieben und aufmunternden Worte wirklich dankbar. Doch zu mehr als einem schwachen Lächeln bin ich im Moment leider nicht fähig.
Martha schnappt sich einen Weidenkorb und drückt ihn Karl kommentarlos in die Hand.
»Tobi, wir fahren zum Wochenmarkt, um Besorgungen zu machen. Alex schläft wohl noch, aber Maria ist mit einer Freundin draußen. Die beiden wollten sich sonnen. Du kannst ihnen ja ein bisschen Gesellschaft leisten.« Sie lächelt mir noch einmal zu, nimmt dann ihre Handtasche und folgt Karl, der die Küche bereits verlassen hat.
Kaum sind sie verschwunden, da vermisse ich die beiden auch schon. Ich wäre so gerne mit ihnen mitgegangen. Verdammt, dieses Gefühl der Einsamkeit ist wirklich erdrückend. Fröstelnd schiebe ich die dunklen Wolken von mir, die mich unablässig zu verfolgen scheinen. Gibt es in diesem Haus keinen Sonnenschein?
Hm, vielleicht wird es tatsächlich Zeit, ein bisschen frische Luft zu schnappen. Meine Badeshorts am Leib und ein großes Handtuch über der Schulter, stehe ich wenige Minuten später im Garten.
Gestern Nacht bin ich ja schon von seiner Größe beeindruckt gewesen, doch bei Tageslicht betrachtet fehlen mir fast die Worte. Der Rasen kurz und saftig grün, die Blumen gepflegt und bunt, die Bäume hoch und edel. Überall gibt es Sitzmöglichkeiten. Bänke an den großen Stämmen, Schaukeln zwischen Rosensträuchern und Liegestühle im weichen Gras.
Der Pool ist einige Meter vom Haus entfernt. Das Wasser glitzert verführerisch in der Sonne. Der August scheint sich endlich gegen den Wettergott durchgesetzt zu haben. Die letzten Tage sind noch kühl und feucht gewesen, aber heute scheint die Sonne warm herab.
Ich halte mein Handy in der rechten Hand. Mein Plan ist es, mir irgendwo ein schönes Plätzchen zu suchen und dann erst einmal Ma anzurufen. Am Pool kann ich die Gestalten von zwei Mädchen erkennen. Das müssen Maria und ihre Freundin sein. Ich habe keine Lust auf meine Stiefschwester, darum halte ich zunächst Sicherheitsabstand.
Das Gespräch mit Ma lässt sich in wenigen Worten wiedergeben: Lügen, Lügen und Lügen… Eigentlich ist es wie immer: Ma redet und ich höre zu. Auf jede ihrer Fragen gibt sie sich praktisch selbst die Antwort. Das macht sie immer so, wenn sie Angst vor der Wahrheit hat. Sie quasselt sie einfach nieder. Doch dieses Mal stört mich ihr Egoismus überhaupt nicht. Manchmal machen Lügen das Leben einfacher.
Als ich auflege, bin ich traurig. Ja, Tobi ist ein Mamasöhnchen und schämt sich nicht einmal dafür. Ich vermisse Ma. Vermisse ihre verqueren Ansichten und ihren grenzenlosen Optimismus. Aber am meisten vermisse ich ihre Liebe.
Um dem hässlichen, fetten Kloß in meinem Hals davonzulaufen, schlendere ich langsam in Richtung Pool. Die Mädchen liegen nebeneinander auf breiten, weißen Sonnenliegen. Sie sehen aus, als wären sie gerade einer aktuellen Modezeitschrift entsprungen. Die Bikinis sitzen natürlich super knapp und auf den Stupsnasen tragen beide große, schwarze Markensonnenbrillen. Maria hat, genau wie ihre Freundin, eine tolle Figur. Schlank und sportlich. Ich weiß nicht, wie lange sie schon in der Sonne liegen. Ihrer gebräunten Haut nach zu urteilen seit März…
Als ich näherkomme, muss ich schmunzeln, beide haben dieselbe Haltung eingenommen: Auf dem Rücken liegend, die Arme seitlich auf den Stuhllehnen abgelegt, das rechte Bein im 90°-Winkel aufgestellt und das linke ausgestreckt. Ich frage mich, für wen sie hier so posen müssen. Erwarten sie, dass Orlando Bloom gleich durch die Blumenbeete spaziert?
Obwohl ich direkt auf sie zusteuere, zeigen beide keine Reaktion. Entweder sie sind eingeschlafen, vor lauter Sonnenlicht und Dior-Brillen kurzzeitig erblindet, doof, tot oder sie ignorieren mich mit voller Absicht.
»Hi.« Ich werfe mein Handtuch auf eine freie Liege und reiche dem Mädchen neben meiner Stiefschwester die Hand.
»Ich bin Tobi.«
Sie schiebt die Sonnenbrille von der Nase auf die Stirn und mustert mich aus grünen Augen. »Jana.«
Wir schütteln uns die Hände. Sie grinst und ich versuche, zurückzulächeln. Meine stumme Zicken-Schwester bewegt nicht mal den kleinen Finger. Vielleicht ist sie echt
Weitere Kostenlose Bücher