Chaosprinz Band 2
einige Nudeln aus der Pappschachtel über die Stäbchen in seinen Mund zu befördern. Er sieht dabei immer noch entzückend unbeholfen aus und braucht für jeden neuen Bissen eine halbe Ewigkeit, aber immerhin schmeißt er nicht mehr mit Nudeln um sich. Ich beobachte ihn eine kleine Weile und als ich merke, dass ich das tue, lasse ich es rasch sein. Mit sanft klopfendem Herzen wende ich den Blick ab.
»Willst du mir jetzt endlich mal sagen, wo du heute Morgen warst?« Alex' Stimme holt mich aus meinen Gedanken zurück. »Warum bist du schon so früh weg gewesen? Warum hast du nicht auf mich gewartet?«
»Du brauchst mir immer zu lange.« Ich zucke mit den Schultern.
»Spinner, ich bin es doch, der immer auf dich warten muss.«
»Na, dann sei doch froh, dass du heute mal pünktlich losgekommen bist.« Ich lächle gequält und will das Gespräch damit beenden.
»Was ist passiert?« Nun klingt er nicht mehr so bissig… irgendwie sogar besorgt.
Ich sehe ihn unsicher an. Und plötzlich ist meine gute Laune verschwunden. Plötzlich erinnere ich mich wieder an den Streit mit Pa. Plötzlich bin ich wieder verwirrt und ängstlich.
»Ich habe Pa gesagt, dass ich schwul bin«, sage ich sehr leise.
»Was? Wann?« Alex ist geschockt.
»Gestern Nacht.«
»Wann gestern Nacht?«
»Nachts halt.«
»Wie viel Uhr war es? War es spät, als er von der Arbeit kam?«
»Keine Ahnung, Herr Kommissar, und ich kann auch nicht sagen, ob es sonst irgendwelche Zeugen gab«, spotte ich herablassend.
Alex verbeißt sich jeden weiteren Kommentar. »Du hast es ihm einfach so gesagt?«
»Nein… wir haben uns gestritten.«
»Worüber?«
»Über uns… also, ihn und mich… über unsere nicht vorhandene Vater-Sohn-Beziehung und so weiter.« Auch Halbwahrheiten sind Wahrheiten, oder? Ich habe ihn zumindest nicht angelogen – nur ein bisschen was verschwiegen. Ist verschweigen auch schon lügen?
»Wie hat er reagiert, als du es ihm gesagt hast?«, fragt Alex weiter.
»Er hat mich in den Arm genommen und gesagt: Wie schön! Oh, ich wünschte Alex wäre auch schwul!« Ich grinse schwach.
»Musst du das eigentlich immer machen?« Alex sieht mich wütend an. »Wenn es ernst wird, beginnst du, sarkastisch zu werden. Das nervt.«
Ich strecke ihm die Zunge raus und schiebe dann meine Unterlippe nach vorne. Aber Alex ignoriert meine beleidigte Miene einfach.
»Wie hat er reagiert?«, wiederholt er seine Frage eindringlich.
»Überhaupt nicht.« Meine Stimme klingt rau. »Er hat mich in mein Zimmer geschickt.«
»Er hat kein Wort gesagt?« Alex sieht mich ungläubig an.
»Nein.«
»Vielleicht hat er es gar nicht richtig verstanden?«
»Wie, nicht richtig verstanden? Hätte ich es ihm vortanzen sollen, oder was?«, blaffe ich.
»Wenn du aufgeregt bist, drückst du dich manchmal etwas unverständlich und seltsam aus.«
»Was ist an Ich bin schwul! unverständlich?«, frage ich aufgebracht. Alex sagt nichts mehr. In Gedanken versunken starrt er auf sein Mittagessen. Ich sitze mindestens genauso ratlos neben ihm und wünschte, wir wären woanders, allein.
»Hey, Schatz.«
Oh nein, auf die könnte ich gerade wirklich verzichten. Anja setzt sich neben Alex, wobei sie ihm fast auf den Schoß rutscht.
»Magst du deine Nudeln nicht? Du hast ja fast gar nichts gegessen.« Sie streicht ihm eine glänzende, blonde Strähne aus der Stirn.
»Ich habe keinen großen Hunger«, antwortet er leise. Auch der Rest der Clique kommt nun zu uns herüber und Lena und Martin müssen enger zusammenrutschen, damit Dirk und Sylvia noch auf der Couch Platz finden. Ich lehne mich seufzend in meinem Sessel zurück und versuche, alles um mich herum auszublenden.
Meine eigenen Probleme nehmen mich so sehr in Anspruch, dass ich für den alltäglichen Schultratsch keinen Sinn habe. Wie wird es wohl sein, wenn ich das erste Mal mit Pa aufeinander treffe? Ignoriert er unseren Streit? Ignoriert er mein Outing? Ignoriert er mich? Oder wird er darüber sprechen wollen? Und wenn wir miteinander reden, was wird er mir zu sagen haben?
***
Ich stehe vor meinem geöffneten Kleiderschrank und weiß nicht, was ich anziehen soll. Schockierenderweise muss ich feststellen, dass die Auswahl recht spärlich ist. Ich sollte mir mal ein Beispiel an meinen Geschwistern nehmen, in deren Kleiderschränken eine Kleinfamilie mit Hund und Großmutter sehr gut leben könnte. Ich muss unbedingt mal wieder einkaufen gehen. Barfuß tapse ich durch mein Zimmer und bleibe vor dem großen,
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