Charlotte Und Die Geister Von Darkling
sprunghaft und abenteuerlustig wie James oder ganz anders? Als James einschlief oder so tat, um mich loszuwerden, ließ ich die beiden allein. Ich hatte keinen weiten Weg.
Das Zimmer des Kinderfräuleins wies zwei Fenster zum Wald hinter dem Haus hin auf, und während das Gelände von Everton unter der Pflege von Mr. Roland einen bessern Eindruck machte als das Haus selbst unter Mrs. Normans Führung, haftete dem Wald noch immer ein Hauch von Wildnis an, besonders bei Nacht, wenn selbst das Mondlicht keinen Weg in sein dunkles Herz fand.
Ich zog mein Nachthemd an, ging zu Bett und versuchte, an nichts zu denken. Nicht an Nanny Prum und den Kreis von totem Gestrüpp, der den Ort ihres Todes hinter dem Haus markierte. Auch nicht an den armen Mr. Darrow, der sich vermutlich inzwischen einen Rausch antrank. Doch der Versuch, annichts zu denken, ist zum Scheitern verurteilt, denn man muss an die Dinge denken, die man vermeiden will, bevor man an nichts denken kann. Nach diesem verwirrenden Gedankenspiel wandte sich meine Aufmerksamkeit völlig unbeabsichtigt Mr. Darrow zu.
Dabei war mir durchaus bewusst, dass mich meine neue Stellung praktisch zu einer Mutter der beiden Kinder machte. Ich war in jeder Hinsicht ihre Schutzperson. Ich sorgte dafür, dass sie aßen, badeten, lernten und beaufsichtigt wurden. Seit Mrs. Darrows Tod kam ich nun der Rolle als Herrin von Everton am nächsten. Ich will nicht verleugnen, dass mir das gefiel oder dass ich vor dem Einschlafen an unsere gemeinsame Zeit im Musikzimmer dachte, an die Augenblicke, da sich unsere Hände fast berührten, und was geschehen würde, wenn einer von uns diesen letzten kleinen Abstand überwinden sollte …
Ich träumte von meiner Kindheit in Indien, von Tempeln und Dschungeln und verfallenden vielarmigen Statuen, von Tigern und Kobras und Affen, und von unserem Zuhause in der kolonialen Lucknow Residenz. Es war eine vertraute Szene, mit der jeder Traum von meiner Jugend endete: das Zimmer meiner Mutter, das gedämpfte Licht und sie im Bett liegend mit der Cholera, ihr Körper langsam verwelkend, zur Größe eines Kindes verdorrend, verzweifelnd um Luft ringend, jeder Augenblick ein Kampf, bis zum Tod. Mein Vater war nirgends zu sehen, und die Diener machten einen Umweg um dieses Zimmer. Dieser Teil des Traumes endete immer auf die gleiche Weise. Er würde nur aufhören, wenn ich ins Bett stieg, um bei ihr zu sein. Wenn ich über ihre Decken und Kissen und Tücher kroch, ohne sie zu finden, bis ich schließlich die Mitte des Bettes erreichte und erkannte, dass ich ihren Tod nachspielen und durchleben musste, um aufzuwachen. Ich konnte spüren, dass jemand am Bett stand und mir zusah, wie ich mich auf den nassen Tüchern krümmte,ein Mann, ganz in Schwarz gekleidet. Ich versuchte sein Gesicht zu erkennen, doch es war dunkel, und trotz des Umstandes, dass es ein Traum war, konnte ich seine Züge nicht enthüllen. Es schien nicht zu meinem Verstand und dem Traum von Indien zu gehören. Ich versuchte mich aufzusetzen, doch ich sank nur tiefer in die Matratze. Doch im Unterschied zu früheren Versionen des Traumes flüsterte mir dieses Mal die Gestalt zu: »Kinder brauchen ihre Mütter …«
Es war die Stimme einer Frau. Während sie sich auf die andere Seite des Zimmers zurückzog, starb ich auf dem Bett, rang erstickend mit langen, unerträglichen Pausen zwischen jedem Atemzug nach Luft, bis ich keuchend und in Schweiß gebadet wieder in Everton war. Ich schob die Decken vom Bett, damit sie nicht nass wurden, und wollte mich gerade umziehen, als jemand an die Tür zum Kinderzimmer klopfte.
»Charlotte?«
James öffnete, ohne meine Antwort abzuwarten. Er hatte geweint. Sein Gesichtchen war so nass von den Tränen wie meines von Schweiß. James war der mutigere der beiden und träumte oft von haarsträubenden Abenteuern mit Leichen fressenden Dämonen, Mumien und Spinnenfrauen, um nur einige Bewohner seiner gut bestückten Monstermenagerie aufzuzählen. Gelegentlich schoss die Phantasie über seine Fähigkeit hinaus, mit seinen Kreationen fertig zu werden. Dann wachte er mitten in der Nacht auf und war überzeugt, dass die Spinne auf dem Fensterbrett eine Agentin der grausamen Spinnenkönigin war, die sich für den Diebstahl ihres magischen Silbernetzes rächen wollte.
Paul war ganz anders. Sehr oft wurde er wach, wenn ich in ihr Zimmer kam, um mich um seinen Bruder zu kümmern, und war verärgert darüber, dass ich ihn aus dem wunderschönsten Alptraum
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