Charlotte Und Die Geister Von Darkling
Darrow war nicht die Art von tragischer Figur, die sich für immer in seinem Arbeitszimmer verkroch, das man wohl eine der letzten Bastionen des einstigen Glanzes von Everton nennen konnte. Mit seinen mit gewachstem Eichenholz verschalten Wänden, der sauberen, aschefreien Feuerstelle und den Antiquitäten, die der Herr des Hauses und seine verstorbene Gemahlin von überall auf der Welt zusammengetragen hatten, bildete es einen schrillen Kontrast zum Rest des Anwesens. Es war ein Ort jenseits der Zeit. Ein Marmorglobus in der Mitte des Raumes erzählte mit funkelnden, juwelenbesetzten Punkten entlang der Reiserouten von den Abenteuern seiner Besitzer. Niemand sah je Mr. Darrow beim Saubermachen in seinem Arbeitszimmer, und da er auch niemandem sonst erlaubte, es für ihn zu tun, nahmen alle an, dass er es mit verbitterter Entschlossenheit tat, wenn er allein war, während er voll Sehnsucht auf das Porträt der toten Gemahlin blickte, das über seinem Schreibtisch hing.
Aber er hielt sich nicht immer in seinem Arbeitszimmer auf. Bei mehreren Gelegenheiten, als ich an die Tür pochte, weil ich zusätzliches Taschengeld brauchte oder seine Erlaubnis für einen Ausflug zu einem bestimmten Schloss oder Schlachtfeld erbitten wollte, fand ich sein Zimmer leer vor. Niemand wusste, wohin er gegangen war, niemand hatte ihn weggehen sehen. Er verließ Everton nur ungern, deshalb stellte ich mir vor, dass er durch die dunklen Korridore wanderte, in unbenutzte Zimmer glitt, da und dort auf einem Stuhl Platz nahm, der seit langer Zeit vonschützenden Tüchern bedeckt war, oder vor einer stehengebliebenen Uhr anhielt und sich fragte, ob sie beim Tod seiner Frau stehen geblieben war.
Er aß üblicherweise nicht mit uns zu Abend, deshalb waren die Kinder und ich merklich überrascht, als er zwei Wochen nach Nanny Prums Begräbnis am Kopfende des Tisches im Esszimmer Platz nahm. Er war in mürrischer Stimmung, bis Fredericks, dem Butler, der entweder mehr als einen hinter die Binde gegossen hatte oder aus anderen Gründen nicht mit seinen Händen zurechtkam, der Suppenkessel aus den Fingern glitt, so dass der Inhalt über seine Uniform floss. Nachdem wir erkannt hatten, dass die Suppe nicht heiß genug zum Verbrühen war, lachten wir alle, und selbst Mr. Darrow schien sich einen kurzen Moment zu amüsieren. Doch dann wanderte sein Blick zum anderen Ende des Tisches, wo die verstorbene Mrs. Darrow Platz genommen hätte, und er verkroch sich wieder in seine Schwermut. Ich weiß nicht, weshalb er an diesem Abend unsere Gesellschaft suchte. Vielleicht war ihm Nanny Prums Tod erst jetzt richtig bewusst geworden, und er brauchte jemanden um sich. Vielleicht erinnerte ihn das auch an die Existenz seiner Kinder, und er wollte sie auf seine verlorene, traurige Weise trösten.
Bald nach dem Dessert begann die Standuhr zu schlagen. Ich brachte die Kinder nach oben, um sie fürs Bett bereit zu machen. Ich sagte gute Nacht zu Mr. Darrow und ließ ihn allein mit seiner angebrochenen Weinflasche zurück. Ich machte mir Sorgen um seine Gemütsverfassung, war aber zu sehr damit beschäftigt, mich um meine neuen Aufgaben mit den Kindern zu kümmern, um eingehender darüber nachzudenken.
In den Tagen nach Nanny Prums Tod hatten wir kurzerhand entschieden, dass es am praktischsten wäre, wenn ich einfach ihre Pflichten übernahm. Ich verbrachte bereits viel Zeit mit den Buben als ihre Lehrerin, und wenn ich darüber hinaus Einflussauf ihr Leben außerhalb des Klassenzimmers hatte, würde es das Leben für alle leichter machen. Ich konnte solch ein Angebot nicht ablehnen, umso mehr, als ich das Gehalt einer Nanny zu meinem eigenen dazu bekommen sollte. Ich war mir bewusst, was für eine Gelegenheit das war, und wollte Mr. Darrows offensichtliche Großzügigkeit nicht enttäuschen.
Der Übergang war nicht so problematisch, wie man vielleicht denken mag. Auch als Gouvernante war von mir erwartet worden, mich um das Wohlergehen der Kinder bei Krankheit und Verletzung zu kümmern. Es fiel mir nicht schwer, mich von Papierschnittverletzungen und Nasenbluten im Unterricht auf Bettnässen und die schlimmen Träume danach umzustellen.
An diesem Abend brachte ich James zu Bett und las ihm eine Geschichte vor, während Paul mit dem Rücken zu mir lag und in einem obskuren Gedichtband blätterte. Er hatte so viel von seinem Vater, vor allem die Augen … diese tiefblauen, großen, traurigen Augen. Ich fragte mich, wie Mrs. Darrow gewesen sein mochte. So
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