Charlotte Und Die Geister Von Darkling
nicht gesehen.«
»Dem Lärm nach zu schließen, haben die Jungs Sie heute Abend auf Trab gehalten.« Er lächelte mich an und deutete in den Korridor. »Würden Sie mich ins Arbeitszimmer begleiten, bevor Sie zu Bett gehen?«
Mein Magen verkrampfte sich. Ahnte er, dass etwas Ungewöhnliches geschehen war? Oder – meine Gedanken wanderten zu den geheimen, romantischen Orten, die einem nicht entgingen, wenn man sich nachts durch ein dunkles altes Haus bewegte – mochte er etwas anderes vorhaben? Obgleich ich seine Frau kennengelernt hatte, konnte ich nicht leugnen, dass ich die letztere Möglichkeit ziemlich aufregend fand. Ist es nicht in den meisten Geschichten genau so? Die junge Gouvernante verliebt sich in den attraktiven, verwitweten Arbeitgeber und lebte mit ihm glücklich bis ans Ende ihrer Tage? Wir verdienten beide ein wenig Glück. Wo selbst die Toten, so schien es mir jetzt, ein Anrecht auf die Dinge hatten, die sie am meisten ersehnten.
»Aber natürlich.«
Die Gaslichter flackerten über uns in ihren gesprungenen Glasschirmen im Kampf gegen die Dunkelheit, in die die Nacht das Haus hüllte. Es erinnerte mich unangenehm an die Zusage, die ich am Nachmittag gemacht hatte. Ich wrang das Taschentuch in meinen Händen.
»Ist alles in Ordnung?« Mr. Darrow hielt an der Tür zu seinem Arbeitszimmer an und berührte mich fast an der Schulter, aber er fing sich und legte die Hand stattdessen an den Türgriff und öffnete sie. Ich stand mit törichten Gedanken auf dem Gang, versuchte, mich von den Erlebnissen des Tages frei zu machen,und fragte mich, wie sich seine Hand auf meiner Haut angefühlt hätte.
»Ja, alles in Ordnung.« Ich folgte ihm ins Zimmer.
Er saß hinter seinem makellos sauberen Schreibtisch, mit gefalteten Händen, unter dem Porträt seiner verstorbenen Frau. Auf der anderen Seite des Zimmers stand die Türe offen.
»Die Kinder scheinen sehr glücklich zu sein«, stellte er fest.
»Sie haben ein wundervolles Zuhause und einen liebevollen Vater. Wie könnten sie es da nicht sein?«
»Sie vollbringen Wunder an ihnen, und ich möchte, dass Sie wissen, dass ich Ihnen Ihre großartigen Dienste entsprechend vergüten werde.«
»Mr. Darrow, ich kann Ihnen versichern, dass mein gegenwärtiges Gehalt mehr als großzügig ist.«
»Dessen bin ich mir durchaus bewusst, aber dennoch denke ich, dass Sie eine Gehaltserhöhung verdienen. Es war ein schwieriges Jahr für unsere Familie …« Seine Stimme versagte. Ich war nicht sicher, ob er in der Lage sein würde fortzufahren. »Sie hatten Recht bei unserem Gespräch. Ich fürchte, ich bin distanziert im Umgang mit den Kindern geworden.«
Es stimmte, dass Mr. Darrow sich nach Nanny Prums Tod noch rarer als sonst gemacht hatte. Er nahm seinen Nachmittagstee mitten in der Nacht zu sich, aß häufig in seinem Arbeitszimmer, und zu den seltenen Gelegenheiten, da er uns Gesellschaft leistete, trank er zu viel. Er gab sich wieder der Trauer hin, nicht nur um seine Angestellte, sondern vor allem, da war ich ganz sicher, um seine Frau. Dies war ein Schmerz, den ich nur allzu gut kannte.
»Bei allem gebotenen Respekt, Sie müssen die Schwere Ihres Verlustes bedenken.«
Mr. Darrow versuchte ein Lächeln, doch sein Blick war verloren und traurig.
»Das stimmt. Wir pflegten jedes Wochenende gemeinsam zu verbringen, aber seit Lily … Sie erinnern mich so sehr an sie.«
»Vielleicht könnten Sie an den Wochenenden wieder ein wenig Zeit mit ihnen gutmachen.«
»Ja, vielleicht …« Er lehnte sich zurück in seinem Sessel und prüfte die Luft vor sich. »Mrs. Markham, haben Sie ein neues Parfüm?«
Ich kämpfte gegen ein flaues Gefühl an. Ich musste Mrs. Darrow zu nahe gekommen sein.
»Nein, warum fragen Sie?«
»Ich dachte nur. Vermutlich bin ich nur müde. Ich möchte Sie nicht länger aufhalten.«
Er erhob sich und lehnte sich gegen den Kamin. Er blickte ins Feuer, aber er vermied es, das Porträt seiner Frau anzusehen, das darüber hing. »Zum See vielleicht. Ja, das wäre vortrefflich.«
»Gute Nacht, Mr. Darrow.«
Ich ging leise aus dem Zimmer und überließ ihn seinen Gedanken.
SECHSTES KAPITEL
Eine Frage von Geistern
Am nächsten Morgen erwachte ich bei Sonnenaufgang. Ich hatte mir mitten in der Nacht vorgenommen, eine besondere Besorgung zu machen, um meine Befürchtungen im Hinblick auf das Versprechen, das ich den Kindern am Vortag gegeben hatte, ein wenig zu zerstreuen. Ich entschied mich, ein langes schwarzes Kleid,
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