Charlotte Und Die Geister Von Darkling
treibenden Fleischstücke packten. Der alte Mann wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn und fuhr fort, den Inhalt seiner Schubkarre zu entladen. Die Gliedmaßen des Wesens auf dem Grunde des Teiches zuckten hungrig.
Ich wich vom Fenster zurück. Mein Herz hämmerte gegen das silberne Kruzifix, das ich noch immer trug. Ich schrie nicht. Aber ich spürte mit jeder Faser, dass ich die Kinder so schnell wie möglich aus dem Haus bringen musste.
»Haben Sie keine Angst«, sagte eine Stimme hinter mir. Ich fuhr herum.
Mrs. Darrow stand am anderen Ende des Ganges und blickte mich ruhig an.
»Wie konnten Sie nur Ihre Kinder an einen solch schrecklichen Ort einladen?«
»Ich gebe zu, dass er ungewöhnlich ist, aber schrecklich … nein.«
»Das Ding im Teich …«
»Musste gefüttert werden.« Sie kam ans Fenster und blickte auf das Anwesen hinaus. »Dass es anders aussieht und sich anders benimmt als wir, macht es doch noch nicht zu etwas Bösem. Es würde Ihnen und den Kindern niemals etwas antun.« Die Schatten der Tentakel glitten über uns, und ihr fielen die Bücher unter meinem Arm auf. »Ich sehe, Sie waren in der Bibliothek.«
»Unter anderem«, erwiderte ich mit einem leisen Schauder, aber ich verriet ihr nicht, was ich gesehen hatte. Vielleicht wusste Lily selbst gar nichts über die Geschäfte, denen dieser Mr. Whatley nachging. »Ich konnte nicht schlafen.«
»Ich auch nicht. Ich habe mir Sorgen um die Kinder gemacht.«
»Ich auch.«
»Ich würde niemals zulassen, dass ihnen etwas Schlimmes widerfährt. Das müssen Sie mir glauben.«
»Und wie wollen Sie sie vor den Dingen schützen, die ich mit Worten gar nicht beschreiben könnte?« Ich deutete zum Fenster.
»Das kann ich nicht, aber der Herr des Hauses vermag es. Das kann ich Ihnen versichern.«
»Diese Vereinbarung zwischen Ihnen und Mr. Whatley, der sich, wenn ich das feststellen darf, noch nicht vorgestellt hat, erfüllt mich mehr und mehr mit Misstrauen.«
»Er ist ein sehr beschäftigter Mann. Aber er wird morgen zum Frühstück anwesend sein. Wenn Sie ihn kennenlernen, werdenSie verstehen, warum ich zugestimmt habe, zu bleiben. Oh bitte, wenn Sie mir danach immer noch nicht trauen, können Sie die Kinder nehmen und nie mehr hierher zurückbringen.« Sie berührte mich leicht am Arm und blickte mir in die Augen. Die Frau war schwer abzuschätzen. In ihr verschmolzen Kraft und Zerbrechlichkeit auf seltsame Weise, und ich hoffte, dass ihr das Macht genug verlieh, all die Kreaturen, die das Darkling-Haus beherbergte, im Zaum zu halten.
»Warum machen Sie sich dann Sorgen?«
»Sie sind so groß geworden …« Sie entspannte sich merklich, und auch mir wurde ein wenig leichter ums Herz.
»Das haben Kinder so an sich, wenn man sie eine Weile nicht sieht.«
»So viel Zeit ist vergangen. Vielleicht hätte ich mich fernhalten sollen. Ich war schrecklich egoistisch.«
»Unsinn.« Ich legte meine Hand auf ihre und lächelte traurig. »Jede Chance, Sie wiederzusehen, ist viel zu wichtig für die beiden. Ich wünschte mir selbst, dass ich meine Mutter ein wenig besser gekannt hätte, bevor sie starb.«
Wir sahen uns stumm an. Ihr Kopf neigte sich auf eine Seite, als hätte sie eine Entscheidung getroffen. Dann lächelte sie und umarmte mich flüchtig.
»Bis morgen.«
Sie wandte sich um und verließ den Korridor. Mir wurde bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wo sie schlief, und ich fragte mich erneut, was sie des Nachts trieb, während wir anderen ruhten.
Die Geräusche im Haus hörten nie auf, aber mit Hilfe der Bücher aus der Bibliothek konnte ich sie weit hinter mir lassen. Die fremdartige Schrift in den Bänden verwandelte sich in die Sehenswürdigkeiten und Düfte Indiens selbst. Ich spazierte, nurmit einem Nachthemd bekleidet, durch die Straßen von Lucknow und Bombay, schritt durch die Höfe des Taj Mahals. Ich war ein barfüßiger Geist, den niemand bemerkte. Jede Seite ließ mich durch einen anderen Teil des Landes wandeln, und ich durchstreifte sie alle, bis ich keine Kraft mehr in den Beinen hatte. Ich schloss das Buch und kehrte in mein Zimmer im Darkling-Haus zurück, wo ich sofort auf das Bett sank und einschlief.
Ich träumte, dass meine Mutter an einem windumtosten Moor entlangwandelte, nur mit einem Nachthemd angetan, das genau so aussah, wie ich eines trug. Sie war tot, und doch schritt sie dahin. Ich versuchte sie zu überzeugen, wieder hereinzukommen in ein Haus in einiger Entfernung, aber sie
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