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Charlotte Und Die Geister Von Darkling

Charlotte Und Die Geister Von Darkling

Titel: Charlotte Und Die Geister Von Darkling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Boccacino
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mitten in einer Art Dekorationsmetamorphose zu befinden. Die Außenschicht der Steinsäulen entlang des großen Raumes zerbrach und fiel ab und enthüllte Baumstämme von fast dem gleichen Durchmesser. Die Juwelen im gebürsteten Metall der Wände fielen herab und landeten in einem Feuerwerk farbigen Lichtes klappernd auf dem Boden, was zur Begeisterung einiger und der Verärgerung anderer Gäste führte, die in Gespräche vertieft ihre Cocktails genossen. Aus den frischen Höhlen der ehemaligen Fassungen trieben kräftige Ranken und kletterten an den Wänden empor, die daraufhin ihren matten Glanz verloren und zu Spiegeln wurden, bis der Ballsaal einem endlosen Wald glich, in dem Blumen aus den Fugen zwischen den schwarzen und weißen Marmorfliesen des Bodens wuchsen.
    »Sie hätten nicht wiederkommen sollen.« Lily erschien an meiner Seite und flüsterte mir ernst und verzweifelt ins Ohr. Aber dann entdeckten die Buben sie, und sie verwandelte sich in die Mutter, wie sie sie kannten und liebten, nie traurig, nie verärgert, immer tadellos und gefasst. Sie hätte sie beide geküsst wie immer, wären in dem Moment nicht die Lichter ausgegangen. Ein Schweinwerfer am Eingang des Ballsaales erfasste Olivia Whatley in einem eisblauen Abendkleid am Arm ihres Vaters. Höflicher Applaus folgte ihnen, als sie die Runde machten, und dann übergab er sie an Dabney in einem weiten offenen Kreis, den die Gäste ihr frei machten. Der gut aussehende junge Mann trug einen maßgeschneiderten pflaumenfarbenen Anzug, der einen seltsamen Gegensatz zu seinem mysteriösen Verhalten bildete: Die Arme ausgestreckt, den Kopf zurückgeworfen, verharrte er in einer fast tranceartigen Ehrfurcht. Olivia stand vor ihm, und er legte die Hände um ihren Hals.
    In diesem Augenblick begann ich eine zunehmende Wärme in der Magengrube zu spüren, die in meine Brust und meineKehle emporwanderte, bis ich dachte, mir würde übel werden. Dann öffneten sich meine Lippen und gaben einen Laut von sich, der wie ein Lied klang oder wenigstens ein Teil eines Liedes. Ich dachte, ich wäre verrückt geworden oder dass Mr. Whatley etwas als Vergeltung für meine impertinente Drohung bei unserem letzten Treffen getan hätte. Doch dann sah ich mich um und erkannte, dass jeder andere Gast einen anderen Teil des Liedes sang. Ein fünfhundertstimmiger Chor erklang im widerhallenden Gewölbe des Ballsaales.
    Dabney war aus dem Raum verschwunden. Olivia bewegte sich mit dem Gesang. Sie wiegte sich leicht im Tanz der unendlichen Trauer. Die fünf Eisfiguren, die über den Tischen mit dem Essen am Ende des Saales standen, erwachten knirschend zum Leben und stiegen herab auf den Tanzboden. Sie bewegte sich unter ihnen, von einer zur anderen; langsam erst, wie im Traum, bis eine von ihnen sie ins Gesicht schlug.
    Ich tastete entsetzt an mein Gesicht, und die letzte Nacht war wieder lebendig. Doch Olivia ging sofort zum Gegenangriff über und versetzte dem Tanzpartner, der sie geschlagen hatte, einen so festen Stoß, dass er stürzte und am Boden in eine Million Eissplitter zerbarst. Dies schien die anderen zu erzürnen, denn sie umringten sie, zerrten an ihrem Kleid und zerrissen es, bis sie nackt und verwundbar war. Die Figuren klammerten sich an sie, so dass sie nie ganz nackt zu sehen war, und unser Gesang wurde schneller, und die Temperatur im Raum begann zu steigen. Die im Saal verteilten hölzernen Säulen fingen Feuer. Die Eistänzer schmolzen, als sich Blasen auf Olivias Haut bildeten. Es war ein schrecklicher Anblick, und obgleich ich ihren Vater hasste, wollte ich diesem armen Mädchen helfen, doch Lily hielt mich eisern fest.
    Die Säulen hörten auf zu brennen und wurden wieder zu Stein. Olivia schien trotz der starken Verbrennungen keine Schmerzenzu empfinden. Sie griff an ihren Hinterkopf und begann große Streifen verbrannten Fleisches abzuziehen. Darunter kam das schöne, gesunde Mädchen zum Vorschein, das kurz zuvor mit seinem Vater den Saal betreten hatte. Die flüssigen Überreste der Eisfiguren flossen von selbst zusammen und auf sie zu, an ihren Beinen und ihrem Körper empor, wobei sie gefroren und die Form des einstigen eisfarbenen Ballkleides annahmen.
    Wir beendeten den Gesang, und Olivia verbeugte sich tief. Dabney erschien aus dem Nichts hinter ihr und nahm sie an der Hand. Alles, was ich tun wollte, war applaudieren. Ich verstand nicht, was geschehen war, oder was es bedeutete, aber es war vollkommen außergewöhnlich gewesen. Die anderen

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