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Charlotte Und Die Geister Von Darkling

Charlotte Und Die Geister Von Darkling

Titel: Charlotte Und Die Geister Von Darkling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Boccacino
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hinlegten.
    »Charlotte?«
    »Ja, Henry?«
    »Was würdest du zu Jonathan sagen, wenn du ihn nach all diesen Jahren wiedersehen könntest?«
    Ich schloss die Augen und rief mir sein Gesicht ins Gedächtnis, noch während ich die Wärme von Henrys Körper neben mir spürte. Die Erkenntnis, dass meine Gefühle für beide Männer einander nicht ausschlossen, überraschte mich.
    »Ich würde ihm sagen, wie sehr ich ihn geliebt habe und dass ich ihn immer lieben werde, ganz gleich, was die Zukunft bringen mag.«
    Er holte tief Luft und blieb eine Weile in seine Gedanken versunken. Dann sagte er: »Als sie krank wurde, blieb ich Tag und Nacht an ihrer Seite und litt mit ihr. Ich dachte, wenn ich auf jede erdenkliche Art und Weise für sie da sein könnte, dass dann vielleicht ein ganz klein wenig von meiner Kraft auf sie übergehen würde. Aber das geschah nicht. Ich konnte nur zusehen, wie sie mir entglitt. Sie starb in meinen Armen. Ich spürte es, spürte, wie der letzte Atem ihren Körper verließ. Da habe ich sie geküsst. Irgendwie war diese Hoffnung in mir, dass ich sie von der anderen Seite zurückholen könnte, solange sie noch warm war   …«
    Ich legte meine Hand in seine.
    »Ich weiß nicht, ob ich ihr gegenübertreten kann«, sagte er.
    »Das kannst du. Und das wirst du.«
    »Aber was soll ich dann sagen? Was könnte ich sagen?«
    Ich hatte keine Antwort für ihn. Wir lagen in der Dunkelheit, Hand in Hand, und sanken rasch in einen traumlosen, geruhsamen Schlaf.
    Am Morgen brachte uns der bucklige Priester frische Kleidung als Ersatz für die versengten und zerrissenen Lumpen, in denen wir am Vortag angekommen waren. Wir badeten ein letztes Mal in dem Becken und wuschen uns die leuchtenden Teilchen aus Haut und Haaren, bevor wir in die Kleidung schlüpften, die wohl für Diener gedacht war. Dann führte man uns die Treppe wieder hinauf zum Eingang des unterirdischen Tempels.
    Draußen konnte ich erneut die keuchenden Laute aus den Erdgruben hören. Ich wandte mich an den Priester.
    »Diese Löcher um den Tempel herum   …«
    »Ein politisches Gefängnis.«
    Ich blieb empört stehen.
    »Ist das der Grund für die Rebellion?«, fragte Henry.
    »Das ist das Werk der Rebellion. In Zeiten wie diesen ist die Frage nach Recht und Unrecht nicht mehr so leicht zu beantworten.« Der Priester führte uns hinter dem Gebäude einen Hügel hinab zu einem leeren Meeresstrand mit lauen Wogen und einem wackeligen Bootshaus am Ende einer verfallenden Anlegestelle. Er ging hinein und kam mit einem kleinen Ruderboot heraus, das er an einem schmutzigen Strick durch das Wasser zog.
    »Steigt ein«, sagte er. Henry stieg zuerst ein und half mir dann vom Steg. Der Bucklige stieß uns ab und trampelte dann durch das Boot, dass es fast kenterte, und setzte sich an den Bug. Er sah Henry an. »Ruder.«
    Der einstige Herr von Everton nahm die Ruder, und wir glitten über das dunkle Wasser durch ein Meer von schwarzgrünen, hügeligen Inseln mit kahlen Bäumen, deren Äste wie Klauen in die Luft ragten. Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den Sternen am samtenen Himmel empor. Nichts bewegte sich zwischen den Bäumen und den Hügeln der tristen Küstenstreifen, deren erschreckende Öde mich kaum berührte. Zu sehr beschäftigte mich die Unsicherheit, die ich spürte, während ich Henry beim Rudern beobachtete. Unsere Geschicke verstrickten sich, als wir blind aus dem Rahmen unserer Geschichte ausbrachen, seit wir nicht mehr Hausherr und Gouvernante waren, sondern nur noch zwei Menschen, die in der Nacht nach zwei verlorenen Kindern suchten, und vielleicht nach ihrer eigenen Bestimmung.
    Land tauchte am Horizont auf. Es lag schwarz und kalt im Mondlicht. Eine dünne Rauchsäule stieg von der Küste auf. Ein verfallender Leuchtturm stand mit klaffenden Mauern auf einem trügerischen Schutthaufen.
    Als wir näher kamen, enthüllte die felsige Küste eine verlassene Ansammlung von heruntergekommenen Häusern. Es war eine traurige kleine Stadt aus vermodernden Mauern und ausgeschlagenen Fenstern, die am Rand eines zerstörten Hafens kauerte. Aber sie war nicht ganz unbewohnt. Der Rauch, den wir vom Meer aus gesehen hatten, stieg aus dem Kamin einer Hütte am Ende der Straße auf. Aus den Fenstern drang Lichtschein, der Feuer und Wärme verhieß.
    Die Hülle des Bootes scharrte über Grund, und Henry sprang ins Wasser, um es auf den Strand zu ziehen. Er bot mir seine Hand und half mir beim Aussteigen. Der Priester ging ebenfalls

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