Charlston Girl
Kette finden! Versprochen.«
Ich gebe mich so optimistisch und überzeugend wie ich kann, aber innerlich... bin ich mir nicht so sicher.
Gott sei Dank sitze ich in der ersten Reihe. Als die Show anfängt, stehen die Leute dicht an dicht, und alle sind so lang und dürr, dass ich von weiter hinten nie im Leben was gesehen hätte. Musik setzt ein, überall blitzen Lichter, und gemeinsam schreit die Menge auf, vor allem Diamantés Freunde.
»Diamanté!«, ruft einer.
Bestürzt muss ich mit ansehen, wie Trockeneisnebel über den Catwalk wabert. Wie soll ich mir so irgendwelche Models genauer ansehen? Von Ketten ganz zu schweigen. Um mich herum fangen die Leute an zu husten. »Scheiße, Diamanté, wir können hier nichts sehen!«, schreit ein Mädchen. »Stell es ab!«
Schließlich lichtet sich der Nebel. Rosafarbene Spots nehmen den Catwalk ins Visier, und ein Stück von den Scissor Sisters wummert aus den Boxen. Ich beuge mich vor, mache mich für das erste Model bereit, will mich so gut wie möglich konzentrieren, als ich im Augenwinkel etwas ganz anderes sehe.
Auf der anderen Seite des Catwalks, mir direkt gegenüber, sitzt Onkel Bill. Er trägt einen dunklen Anzug und ein Hemd mit offenem Kragen, und hat Damian, seinen Assistenten, bei sich. Als ich ihn entgeistert anstarre, blickt er auf und sieht mir direkt in die Augen.
Mein Magen krampft sich zusammen. Ich fühle mich wie erstarrt.
Nach einer Minute etwa hebt er langsam die Hand zum Gruß. Benommen tue ich es ihm nach. Dann wird die Musik lauter, und plötzlich ist das erste Model auf dem Catwalk, in einem weißen Trägerkleidchen, bedruckt mit Spinnweben, und macht diesen speziellen Model-Walk, als bestünde sie nur aus Hüftknochen und Wangenknochen und dürren Armen. Verzweifelt starre ich die Ketten an, die um ihren Hals baumeln, doch das Mädchen huscht viel zu schnell vorbei, um etwas erkennen zu können.
Ich sehe zu Onkel Bill hinüber und spüre kribbelndes Entsetzen. Auch er sieht sich die Ketten an.
»Es hat keinen Sinn!«, kreischt Sadie. Wie aus dem Nichts springt sie auf den Catwalk, geht direkt auf das Model zu und betrachtet das Gewirr aus Ketten und Perlen und Glücksbringern aus allernächster Nähe. »Ich kann sie nicht finden! Ich sag dir doch, sie ist nicht hier!«
Das nächste Model erscheint, und blitzartig sucht Sadie dessen Ketten ab.
»Hier auch nicht.«
»Super Kollektion!«, ruft ein Mädchen neben mir. »Oder nicht?«
»Ah... ja«, sage ich geistesabwesend. »Hübsch.« Ich sehe nur noch Ketten. Perlen und Gold und Strass verschwimmen vor meinen Augen, ich ahne Böses, fürchte, dass wir scheitern könnten...
Oh mein Gott.
Oh mein Gott, oh mein Gott! Da ist sie! Direkt vor mir. Um den Knöchel eines Models gewickelt. Mein Herz hämmert, als ich die hellgelben Perlen anstarre, die zu einem lässigen Fußkettchen umfunktioniert wurden. Einem Fußkettchen. Kein Wunder, dass Sadie sie nicht finden konnte. Als das Model heranstolziert, ist die Kette etwa einen halben Meter vor mir auf dem Catwalk. Weniger als das. Ich könnte mich vorbeugen und sie mir schnappen. Es ist kaum auszuhalten...
Plötzlich merkt Sadie, wohin ich starre, und stöhnt auf.
»Meine Kette!« Sie huscht zu dem Model hinauf und schreit: »Das ist meine! Meine!«
Sobald das Model den Laufsteg verlassen hat, renne ich hinterher und schnappe mir die Kette. Egal, was passiert. Ich sehe zu Onkel Bill hinüber, und zu meinem Entsetzen starrt auch er Sadies Kette an.
Inzwischen stolziert das Model zurück. Jeden Moment steigt sie vom Laufsteg. Als ich hinübersehe und blinzeln muss, weil mich ein Scheinwerfer blendet, sehe ich, dass Onkel Bill aufsteht und die Leute um ihn herum Platz machen.
Scheiße. Scheiße.
Auch ich springe auf und bahne mir einen Weg hinaus, nuschle Entschuldigungen, wenn ich den Leuten auf die Füße trete. Wenigstens in einer Hinsicht bin ich im Vorteil: Ich bin auf der Seite vom Laufsteg, die dem Ausgang näher ist. Ohne mich umzudrehen, stürze ich mich auf die Doppeltüren und sprinte den Korridor entlang zum Backstage-Bereich, zeige dem Rausschmeißer an der Tür meinen Pass.
Backstage herrscht das reinste Chaos. Eine Frau in Jeans bellt Anweisungen und schiebt Models auf die Bühne. Mädchen reißen sich die Kleider vom Leib, werden neu angezogen, lassen sich die Haare stylen, die Lippen schminken...
Atemlos vor Panik blicke ich mich um. Schon habe ich das Model aus den Augen verloren. Wo zum Teufel ist sie hin? Ich laufe
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