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Charlston Girl

Charlston Girl

Titel: Charlston Girl Kostenlos Bücher Online Lesen
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ich meine Ideenliste, doch die meisten Ideen sind schon durchgestrichen. Das Kino war die vielversprechendste. Die letzten, verbliebenen Einträge sind »andere Tanzclubs suchen« und »Pflegeheim«.
    Während ich meinen Cappuccino trinke, denke ich über das Pflegeheim nach. Sie hat es gehasst. Sie wollte es nicht mal mehr betreten. Warum sollte sie jetzt dort hingehen?
    Aber einen Versuch ist es wert.
    Ich bin total nervös, als ich zum Fairside Home komme. Am liebsten hätte ich mich verkleidet. Ich meine, da stehe ich vor der Tür, ausgerechnet die Frau, die die Schwestern des Mordes bezichtigt hat.
    Ob sie wussten, dass ich es war?, frage ich mich mit böser Vorahnung. Hat die Polizei ihnen mitgeteilt: »Lara Lington hat Ihren guten Namen besudelt?« Denn wenn ja, bin ich geliefert. Sie werden mich wie ein Schwestern-Mob umzingeln und mit ihren klobigen Schuhen auf mich eintreten. Und die alten Leute werden mich mit ihren Gehhilfen erschlagen. Ich habe es nicht besser verdient.
    Doch als Ginny mir die Tür öffnet, sieht sie nicht so aus, als wüsste sie, was ich getan habe. Ihr Gesicht verzieht sich zu einem warmen Lächeln, was mein schlechtes Gewissen noch verschlimmert.
    »Lara! Das ist ja eine Überraschung! Kann ich Ihnen was abnehmen?«
    Ich bin beladen mit Pappschachteln und einem kolossalen Blumengebinde, das mir langsam entgleitet.
    »Oh, danke«, sage ich und gebe ihr eine der Schachteln. »Da ist Schokolade für alle drin.«
    »Du meine Güte!«
    »Und diese Blumen sind für die Schwestern...« Ich folge ihr in den nach Bienenwachs duftenden Flur und stelle das Gebinde auf den Tisch. »Ich wollte mich nur bei allen dafür bedanken, dass Sie sich so nett um meine Großtante Sadie gekümmert haben.«
    Und dass Sie sie nicht ermordet haben. Der bloße Gedanke ist völlig absurd.
    »Wie reizend! Da werden aber alle gerührt sein!«
    »Na, ja«, sage ich verlegen. »Im Namen der ganzen Familie. Wir sind Ihnen alle sehr dankbar und haben ein ganz schlechtes Gewissen, dass wir meine Großtante... nicht öfter besucht haben.«
    Eigentlich nie.
    Als Ginny die Pralinen auspackt und begeistert quiekt, rücke ich heimlich zur Treppe ab und spähe hinauf.
    »Sadie?«, zische ich. »Bist du da?« Ich suche auf dem Treppenabsatz, aber da ist nichts.
    »Und was ist das hier?« Ginny untersucht eine andere Schachtel. »Noch mehr Pralinen?«
    »Nein. Das sind ein paar CDs und DVDs. Für die Bewohner.«
    Ich klappe sie auf und hole die CDs heraus. Charleston Tunes. The Best of Fred Astaire. 1920s-1940s. The Collection.
    »Ich dachte mir, vielleicht mögen sie die Lieder hören, zu denen sie getanzt haben, als sie jung waren«, sage ich zögerlich. »Besonders die ganz Alten. Vielleicht heitert es sie auf.«
    »Lara, wie aufmerksam von Ihnen! Wir werden gleich mal eine einlegen!« Sie geht in den Aufenthaltsraum, in dem die alten Leute auf Stühlen und Sofas sitzen und sich bei brüllender Lautstärke eine Nachmittagstalkshow ansehen. Ich folge ihr und suche zwischen den weißen Köpfen nach Sadie.
    »Sadie?«, zische ich und sehe mich um. »Sadie, bist du hier?«
    Es kommt keine Antwort. Ich hätte wissen müssen, dass die Idee absurd war. Ich sollte lieber verschwinden.
    »So, jetzt kann es losgehen!« Ginny richtet sich vor dem CD-Player auf. »Es müsste jeden Moment anfangen.« Sie stellt den Fernseher aus, und beide stehen wir reglos da und warten auf die Musik. Dann fängt sie an. Ein knisterndes Zwanziger-Jahre-Band spielt ein fröhliches Jazzstück. Es ist etwas leise, aber schon im nächsten Moment dreht Ginny voll auf.
    Am anderen Ende des Raumes sitzt ein alter Mann unter einer karierten Decke, mit einer Sauerstoffflasche neben sich. Er dreht den Kopf. Ich sehe, wie auf den Gesichtern überall um uns herum Erinnerungen aufleuchten. Jemand summt mit zittriger Stimme. Eine Frau fängt sogar an, mit der Hand im Takt zu klopfen und strahlt vor Entzücken.
    »Es gefällt ihnen!«, sagt Ginny zu mir. »Was für eine gute Idee! Schande über uns, dass wir nicht selbst darauf gekommen sind!«
    Ich spüre den Kloß in meinem Hals, als ich das sehe. Sie fühlen sich alle wie Sadie, oder? Als wären sie wieder zwanzig Jahre alt. Das weiße Haar und die faltige Haut sind nur Verkleidung. Der alte Mann mit der Sauerstoffflasche war bestimmt mal ein schneidiger Herzensbrecher. Diese Frau mit dem wässrigen, abwesenden Blick hatte früher nur Unfug im Sinn und hat ihren Freunden dauernd Streiche gespielt. Sie waren alle

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