Charlston Girl
Idee. Reine Zeitverschwendung.
Ich steuere die Bank auf der Grünfläche an, setze mich darauf, zücke ein Twix und starre vor mich hin. Hierherzukommen war dumm. Ich werde diesen Schokoriegel essen, dann rufe ich mir ein Taxi und mache mich auf den Weg nach London. Ich werde einfach nicht mehr an Sadie denken. Und auch nicht nach ihr suchen. Ich habe schon jetzt genug Lebenszeit darauf verwendet. Ich meine, warum sollte ich an sie denken? Sie denkt bestimmt auch nicht an mich.
Ich vertilge mein Twix und nehme mir vor, gleich ein Taxi zu rufen. Es wird Zeit. Es wird Zeit, dass ich mir das alles aus dem Kopf schlage und mein neues, geisterloses Leben beginne. Aber...
Oh Gott. Dauernd sehe ich Sadies herzerweichende Miene auf der Waterloo Bridge. Dauernd höre ich ihre Stimme. Ich habe niemandem je etwas bedeutet... kein Mensch schert sich um mich...
Wenn ich schon nach drei Tagen aufgebe, beweise ich doch nur, dass sie recht hat, oder?
Plötzlich überkommt mich der totale Frust - ihretwegen meinetwegen, wegen der ganzen Situation. Ärgerlich zerknülle ich meine Twix- Verpackung und werfe sie in einen Mülleimer. Ich meine, was soll ich denn machen? Ich habe gesucht und gesucht und gesucht. Wenn sie doch kommen würde, wenn ich sie rufe... wenn sie doch zuhören würde und nicht so stur wäre...
Moment mal. Da kommt mir ein Gedanke, aus heiterem Himmel. Besitze ich nicht übernatürliche Kräfte? Vielleicht sollte ich meine übernatürlichen Kräfte auch nutzen. Ich sollte Sadie aus der Unterwelt holen. Oder von Harrods. Oder wo sie auch sein mag.
Okay, das wird mein letzter Versuch. Aber wirklich.
Ich stehe auf und trete an einen kleinen Teich mitten auf der Wiese. Teiche sind doch bestimmt spirituelle Orte. Jedenfalls spiritueller als Bänke. In der Mitte steht ein vermooster Steinbrunnen, und ich kann mir richtig vorstellen, wie Sadie darin tanzt und plantscht und quiekt, damals, vor so vielen Jahren, während der Polizist versucht, sie herauszuzerren.
»Geister!« Langsam breite ich die Arme aus. Das Wasser kräuselt sich, aber das könnte auch am Wind liegen.
Ich habe keine Ahnung, wie man so was macht. Ich denke es mir einfach aus.
»Ich bin‘s, Lara«, intoniere ich mit Grabesstimme. »Freundin der Geister. Oder zumindest eines Geistes«, räume ich eilig ein.
Ich möchte ja nicht, dass plötzlich Heinrich VIII. auftaucht.
»Ich suche... Sadie Lancaster«, sage ich bedeutungsvoll.
Alles ist still, bis auf eine quakende Ente auf dem Teich. Vielleicht ist »suchen« nicht stark genug.
»Hiermit rufe ich Sadie Lancaster!«, stimme ich gebieterischer an. »Aus den Tiefen der Geisterwelt rufe ich sie zu mir. Ich, Lara Lington mit den übernatürlichen Kräften. Hört meine Stimme! Hört meinen Ruf! Geister, ich flehe Euch an!« Eindruckvoll schwenke ich die Arme. »Falls Ihr Sadie kennen solltet, so schickt sie zu mir! Schickt sie sogleich zu mir!«
Nichts. Keine Stimme, kein Schatten, nichts zu sehen.
»Na gut!«, sage ich und lasse meine Arme sinken. »Dann eben nicht.« Ich richte meine Worte an den Himmel, für den Fall, dass sie zuhört. »Es ist mir egal. Ich habe Wichtigeres zu tun, als hier rumzulungern und mit Geistern zu sprechen. Das hast du nun davon.«
Genervt stampfe ich zur Bank zurück, nehme meine Tasche und mein Handy. Ich rufe die Taxifirma an, die mich hergebracht hat und bestelle mir einen Wagen für sofort.
Mir reicht‘s. Ich haue ab.
Der Taxityp sagt, dass der Fahrer mich in zehn Minuten vor der Kirche abholt, also gehe ich hinüber und frage mich, ob die da wohl einen Kaffeeautomaten oder irgend so was haben. Leider ist die Kirche abgeschlossen. Ich will gerade mein Handy nehmen, um nachzusehen, ob ich eine SMS bekommen habe, als mir etwas auffällt. Es ist ein Schild an einem Tor: »Altes Pfarrhaus«
Altes Pfarrhaus. Ich schätze, hier dürfte früher wohl der Pfarrer gewohnt haben. Was bedeutet... Da müsste dann auch Stephen gewohnt haben. Er war der Sohn des Pfarrers, oder?
Neugierig spähe ich über das hölzerne Tor hinweg. Es ist ein großes, graues Haus mit einem Kiesweg, auf dem ein paar Autos parken. Mehrere Leute gehen vorn hinein, eine sechsköpfige Gruppe. Die Familie, die dort wohnt, scheint zu Hause zu sein.
Der Garten ist verwildert, mit Rhododendron und Bäumen und einem Pfad, der ums Haus führt. Ich kann gerade eben einen alten Schuppen ausmachen, und frage mich, ob Stephen dort wohl gemalt hat. Ich kann mir richtig vorstellen, wie Sadie diesen
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