Charlston Girl
ich glaube, sie ist wirklich, wirklich glücklich.«
»Wahrscheinlich haben Sie recht.«
Einen Moment schweigen wir beide, lassen sie auf uns wirken.
»Sie tut einem gut, nicht wahr?«, sagt die Frau. »Ich komme oft in der Mittagspause hierher und sehe sie mir an. Einfach um mich aufzuheitern. Ich habe auch ein Poster von ihr zu Hause.
Meine Tochter hat es mir geschenkt. Aber es geht doch nichts über das Echte, oder?«
Plötzlich habe ich einen Kloß im Hals. Mit Müh und Not schaffe ich es, ihr Lächeln zu erwidern. »Nein. Nichts geht über das Echte.«
Während ich spreche, tritt eine japanische Familie an das Bild heran. Ich sehe, wie die Mutter ihre Tochter auf die Kette aufmerksam macht. Beide seufzen selig, dann nehmen sie dieselbe Pose ein - die Arme verschränkt, die Köpfe leicht geneigt -und sehen sie nur an.
Alle diese Leute bewundern Sadie. Hunderte, Tausende. Und sie weiß es nicht einmal.
Ich habe nach ihr gerufen, bis ich heiser wurde, immer wieder, aus dem Fenster, die Straße rauf und runter. Aber sie hört mich nicht. Oder sie will mich nicht hören. Abrupt stehe ich auf und sehe auf meine Uhr. Ich muss sowieso los. Es ist fünf Uhr. Zeit für meinen Termin bei Malcolm Gledhill, dem Museumsdirektor.
Ich suche mir den Weg zum Foyer, nenne der Frau am Eingang meinen Namen und warte umringt von französischen Schulkindern, bis hinter mir eine Stimme sagt: »Miss Lington?« Ich drehe mich um und sehe einen Mann im roten Hemd, mit kastanienbraunem Bart und Haarbüscheln, die ihm aus den Ohren wachsen. Mit blitzenden Augen strahlt er mich an. Er sieht aus wie der Weihnachtsmann in jungen Jahren, und unwillkürlich ist er mir sympathisch.
»Hi. Ja, ich bin Lara Lington.«
»Malcolm Gledhill. Kommen Sie hier entlang...« Er führt mich durch eine versteckte Tür hinter dem Kassentresen, ein paar Stufen hinauf und in ein Eckbüro mit Blick über die Themse. Alles ist voller Postkarten und Reproduktionen von Gemälden - an die Wände gepinnt, gegen Bücher gelehnt, an den riesigen Computer geklebt.
»Also...« Er reicht mir eine Tasse Tee und setzt sich. »Sie wollten mich wegen des Mädchens mit der Kette sprechen?« Er mustert mich wachsam. »Ich konnte Ihrer Nachricht nicht ganz entnehmen, worum es geht. Aber es ist offenbar... dringend?«
Okay, vielleicht habe ich etwas zu dick aufgetragen. Ich wollte meine Geschichte nicht der erstbesten Empfangsdame erzählen, also habe ich nur gesagt, es ginge um das Mädchen mit der Kette und es sei eine Frage von Leben oder Tod und von nationaler Bedeutung.
Nun. In der Welt der Künste ist es vermutlich genau das.
»Es ist ziemlich dringend.« Ich nicke. »Aber vorweg möchte ich sagen, dass sie nicht einfach nur irgendein Mädchen ist. Sie war meine Großtante. Hier.«
Ich greife in meine Tasche und hole das Foto von Sadie im Pflegeheim hervor, mit der Kette um den Hals.
»Sehen Sie sich die Kette an«, füge ich hinzu, als ich es ihm reiche.
Ich wusste gleich, dass ich diesen Malcolm Gledhill mag. Er reagiert auf absolut zufriedenstellende Weise. Seine Augen treten hervor. Seine Wangen werden vor Aufregung ganz rosig. Scharf sieht er mich an, dann wieder das Foto. Er betrachtet die Kette um Sadies Hals. Dann hustet er, als hätte er schon zu viel verraten.
»Wollen Sie damit sagen...«, sagt er schließlich, »dass diese Dame hier die ›Mabel‹ auf dem Gemälde ist?«
Irgendwie muss ich diese Sache mit ›Mabel‹ aus der Welt schaffen.
»Sie hieß nicht Mabel. Sie hat den Namen gehasst. Sie hieß Sadie. Sadie Lancaster. Sie wohnte in Archburv und war Stephen Nettietons Geliebte. Sie war der Grund, weshalb man ihn nach Frankreich schickte.«
Alles ist still, bis auf Malcolm Gledhill, der mit prallen Wangen ausatmet.
»Haben Sie irgendeinen Beweis dafür, dass das auch stimmt?«, sagt er schließlich. »Irgendwelche Dokumente? Alte Fotos?«
»Sie trägt die Kette, oder?« Ich spüre leisen Frust. »Sie hat sie ihr Leben lang behalten. Was für einen Beweis brauchen Sie?«
»Existiert die Kette denn noch?« Er macht große Augen. »Ist sie in Ihrem Besitz? Lebt die Frau noch?« Als ihm dieser neue Gedanke kommt, quellen die Augen fast aus seinem Kopf. »Denn das wäre ja wirklich...«
»Sie ist gestorben. Leider.« Ich falle ihm ins Wort, bevor er sich allzu sehr aufregt. »Und die Kette habe ich auch nicht. Aber ich bin ihr auf der Spur.«
»Nun.« Malcolm Gledhill zückt ein Taschentuch mit Paisley-Muster und wischt seine
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