Charlston Girl
obwohl Stephen tot ist und Sadie tot ist und niemand mehr etwas daran ändern kann, nagt bitterer Kummer an mir, als ich den Bürgersteig entlang marschiere. Es war so was von unfair. Es war so was von gemein. Sie hätten zusammen sein sollen. Irgendwer hat offenbar seine Briefe abgefangen, bevor sie bei Sadie ankamen. Wahrscheinlich ihre verklemmten, viktorianischen Eltern.
Also hatte sie keine Ahnung, wie es wirklich war. Sie fühlte sich benutzt. Und war zugleich zu stolz, ihm hinterherzulaufen und es selbst herauszufinden. Den Heiratsantrag des Westenmannes anzunehmen, war nur eine dumme Geste der Revanche. Vielleicht hoffte sie, Stephen würde in der Kirche auftauchen. Noch während der Hochzeit muss sie das gehofft haben. Doch er ließ sie im Stich.
Ich halte es nicht aus. Ich möchte rückwärts durch die Zeit reisen und alles wiedergutmachen. Hätte Sadie nur nicht den Westenmann geheiratet! Wäre Stephen nur nicht nach Frankreich gegangen! Hätten ihre Eltern sie nur nicht erwischt! Wenn doch nur...
Nein. Schluss mit dem ewigen Hätte-wäre-wenn. Es hat ja keinen Sinn. Er ist schon lange tot. Sie ist tot. Es ist vorbei.
Menschen strömen an mir vorbei, auf dem Weg zum Bahnhof Waterloo, doch mir ist nicht danach zumute, in meiner kleinen Wohnung zu hocken. Ich brauche frische Luft. Ich brauche eine andere Perspektive. Ich bahne mir einen Weg durch die Touristen und mache mich auf den Weg zur Waterloo Bridge. Als ich das letzte Mal hier war, hingen die grauen Wolken tief. Sadie stand auf dem Geländer. Ich schrie verzweifelt in den Wind.
Heute Abend aber ist es warm und mild. Die Themse ist blau und kräuselt sich kaum. Ein Ausflugsboot fährt langsam vorbei, und ein paar Leute winken zum London Eye hinauf.
Ich bleibe wieder an derselben Stelle stehen und blicke zum Big Ben hinüber. Aber ich kann kaum etwas erkennen. Es ist, als steckten meine Gedanken in der Vergangenheit fest. Ständig sehe ich Stephens altmodische, kritzelige Handschrift vor mir. Ständig höre ich seine altmodischen Wendungen. Ständig stelle ich ihn mir vor, wie er in Frankreich auf den Klippen sitzt und Sadie schreibt. Ich höre sogar Charleston-Musik, als spielte irgendwo eine Jazz-Kapelle...
Augenblick mal.
Da spielt eine Jazz-Kapelle.
Plötzlich nehme ich die Szenerie unter mir wahr. Einige hundert Meter weiter, in den Jubilee Gardens , haben sich Leute auf dem weiten Rasen versammelt. Man hat eine Bühne aufgebaut. Eine Band spielt altmodischen Jazz. Die Leute tanzen. Natürlich! Das Jazz-Festival! Für das sie Flyer verteilt haben, als ich mit Ed hier war. Für das ich noch ein Ticket habe, zusammengefaltet in meinem Portemonnaie.
Einen Moment stehe ich nur auf der Brücke und sehe hinunter. Die Band spielt Charleston. Mädchen in Zwanziger-Jahre-Kostümen tanzen auf der Bühne, mit fliegenden Fransen und blinkenden Perlen. Ich sehe leuchtende Augen, flitzende Füße und wippende Federn. Und plötzlich, mitten in der Menge, entdecke ich... meine ich, zu erkennen...
Nein.
Einen Moment stehe ich wie angewurzelt da. Und dann -ohne meinem Hirn die Möglichkeit zu lassen zu denken, was es denken möchte, damit auch nicht die leiseste Hoffnung aufflackert, drehe ich mich um, gehe ganz ruhig über die Brücke und die Treppe hinunter. Irgendwie zwinge ich mich, nicht zu hetzen, nicht zu rennen. Ich halte einfach auf die Musik zu, schwer atmend, die Fäuste geballt.
Über der Bühne hängt ein Banner, darüber bündelweise silberne Luftballons, und ein Trompeter mit schimmernder Weste steht da und spielt ein vertracktes Solo. Alles ist voller Leute, die den Charleston-Tänzern auf der Bühne zusehen, und auf einem hölzernen Tanzboden auf der Wiese tanzt das Publikum - manche in Jeans, manche in Zwanziger-Jahre-Kostümen. Alle lächeln voller Bewunderung und zeigen auf die Kostüme, doch in meinen Augen sehen sie nur albern aus. Selbst die Flapper-Mädchen auf der Bühne. Es sind billige Imitationen, mit falschen Federn und Plastikperlen und modernen Schuhen und Make-up aus dem 21. Jahrhundert. Die sehen überhaupt nicht echt aus. Kein bisschen wie ein richtiges Charleston Girl. Kein bisschen wie...
Ich stutze. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Ich hatte recht.
Sie ist oben auf der Bühne und tanzt sich die Seele aus dem Leib. Sie trägt ein blassgelbes Kleid mit passendem Stirnband um das dunkle Haar. Sie sieht geisterhafter aus als je zuvor. Sie hat den Kopf in den Nacken geworfen und die Augen geschlossen, als wollte sie
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