Charlston Girl
sie auf einem Antikmarkt gesehen«, improvisiere ich. »Und ich würde sie gern in Auftrag geben, nur bin ich leider so schlecht im Zeichnen, und da ist mir eben spontan eingefallen, dass du mir vielleicht helfen könntest...«
»Kein Problem. Leg los.« Mark nimmt einen Schluck Tee. Sein Stift schwebt erwartungsvoll über dem Papier, während ich zu Sadie aufblicke.
»Sie war aus Perlen«, sagt sie und hebt dabei die Hände, als könnte sie sie beinah fühlen. »Zwei Reihen Glasperlen, fast durchscheinend.«
»Es sind zwei Perlenreihen«, sage ich. »Fast durchscheinend.«
»Mhhm.« Er nickt, zeichnet runde Perlen. »So etwa?«
»Ovaler«, sagt Sadie über meine Schulter hinweg. »Länger. Und dazwischen war Strass.«
»Die Perlen waren ovaler«, sage ich bedauernd. »Mit Strass dazwischen.«
»Kein Problem...« Mark radiert bereits und zeichnet längere Perlen. »So ungefähr?«
Ich blicke zu Sadie auf. Sie mustert ihn fasziniert. »Und die Libelle«, murmelt sie. »Ihr dürft die Libelle nicht vergessen.«
Weitere fünf Minuten zeichnet Mark, radiert und zeichnet weiter, während ich Sadies Kommentare übermittle. Langsam, aber sicher wächst ihre Kette auf dem Papier heran.
»Das ist sie«, sagt Sadie schließlich. Ihre Augen leuchten. »Das ist meine Kette!«
»Perfekt«, sage ich zu Mark. »Du hast es getroffen.«
Einen Moment betrachten wir sie schweigend.
»Hübsch«, sagt Mark schließlich und deutet mit dem Kopf darauf. »Ungewöhnlich. Erinnert mich an irgendwas.« Stirnrunzelnd betrachtet er sie, dann schüttelt er den Kopf. »Nein. Weiß nicht.« Er sieht auf seine Uhr. »Ich fürchte, ich muss los...«
»Das macht nichts«, sage ich eilig. »Vielen Dank dafür.«
Als er weg ist, nehme ich das Blatt in die Hand und sehe mir die Kette an. Ich muss zugeben, dass sie sehr hübsch ist. Lange Reihen von Glasperlen, glitzernder Strass und ein großer, verzierter Anhänger in Form einer Libelle, mit noch mehr Strass besetzt. »Danach suchen wir also.«
»Ja!« Sadie blickt auf. Ihr Gesicht ist voller Leben. »Genau! Wo fangen wir an?«
»Das soll ja wohl ein Witz sein!« Ich nehme meine Jacke und stehe auf. »Ich werde jetzt überhaupt nichts suchen. Ich gehe nach Hause und gönne mir ein schönes Gläschen Wein. Und dann bestell ich mir ein Chicken Korma mit Naan. Neumodisches Essen«, erkläre ich angesichts ihrer ratlosen Miene. »Und dann gehe ich ins Bett.«
»Und was soll ich machen?«, sagt Sadie und sieht plötzlich so verzagt aus.
»Ich weiß nicht!«
Ich trete ins Foyer hinaus. Ein Taxi entlädt draußen am Bürgersteig ein altes Pärchen, und ich laufe hinaus und rufe: »Taxi? Können Sie mich nach Kilburn bringen?«
Als der Wagen anfährt, breite ich die Zeichnung auf meinem Schoß aus und sehe mir die Kette noch mal an, versuche, sie mir in echt vorzustellen. Sadie beschrieb die Perlen als irgendwie hellgelbes, schillerndes Glas. Selbst auf der Zeichnung glitzert der Strass. Die echte Kette dürfte bezaubernd aussehen. Und auch einiges wert sein. Einen Moment spüre ich einen Funken der Erregung bei dem Gedanken daran, sie tatsächlich zu finden.
Im nächsten Augenblick gewinnt mein Verstand die Oberhand. Ich meine, erstens existiert sie vermutlich gar nicht. Und selbst wenn sie es täte, lägen die Chancen, die Halskette einer Toten zu finden, die sie wahrscheinlich schon vor Jahren verloren oder kaputt gemacht hat, ungefähr bei... drei Millionen zu eins. Nein. Drei Milliarden zu eins.
Schließlich falte ich das Blatt zusammen und stecke es in meine Tasche, dann sinke ich in meinen Sitz. Ich weiß nicht, wo Sadie ist, und es ist mir auch egal. Ich schließe die Augen, ignoriere das unablässige Vibrieren meines Handys und döse ein. Was für ein Tag!
4
Am nächsten Tag ist mir nur noch die Zeichnung der Kette geblieben. Sadie ist verschwunden, und der ganze Zwischenfall kommt mir wie ein Traum vor. Um halb neun sitze ich an meinem Schreibtisch, trinke Kaffee und starre Marks Zeichnung an. Was um alles in der Welt war gestern in mich gefahren? Das Ganze kann nur bedeuten, dass mein Hirn dem Druck nicht gewachsen ist. Die Kette, das Mädchen, das Hexengeheul... offenbar war das alles reine Einbildung.
Zum ersten Mal fühle ich mit meinen Eltern. Selbst ich mache mir Sorgen um mich.
»Hi!« Es scheppert, als Kate, unsere Assistentin, die Tür aufwirft und einen Aktenstapel umkippt, den ich auf den Boden gestellt hatte, um mir Milch aus dem Kühlschrank zu holen.
Unser
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