Charlston Girl
hatten ihn selbst verfasst. Wir haben uns hinter den Büschen versteckt und uns vor Lachen gekringelt.«
Irgendwie regt sich in mir nur widerwilliges Interesse für ihre Geschichte.
»Hatte der Junge nicht eine ganz andere Stimme?«
»Er hat ihr erzählt, seine Stimme klinge so hoch, weil er in ihrer Nähe schrecklich nervös sei und zittere wie Espenlaub. Woraufhin Polly sagte, das könne sie gut verstehen. Ihre Knie seien auch wie Wackelpudding.« Sadie fängt an zu kichern. »Danach haben wir sie jahrelang nur ›Pudding‹ genannt.«
»Wie gemein!«, sage ich entsetzt. »Dann hat sie also gar nicht gemerkt, dass es ein Streich war?«
»Erst als überall im Garten die Büsche zitterten. Dann ist meine Freundin Bunty auf den Rasen gerollt, weil sie so lachen musste, und das Spiel war aus. Arme Polly.« Sadie kichert. »Sie hat getobt. Den ganzen Sommer hat sie kein Wort mit uns geredet.«
»Das überrascht mich nicht!«, rufe ich. »Ich finde, ihr wart grausam! Und außerdem: Was ist, wenn die Liebe noch nicht tot war? Was ist, wenn ihr Pollys letzte Chance auf die wahre Liebe zerstört habt?«
»Wahre Liebe!« Sadie lacht gehässig. »Du bist so altmodisch!«
»Altmodisch ?«, wiederhole ich ungläubig.
»Du bist genau wie meine Großmutter, mit deinen Liebesliedern und der ewigen Seufzerei. Du hast sogar eine Miniatur von deinem Geliebten in der Handtasche, nicht? Ich habe gesehen, wie du einen Blick darauf geworfen hast.«
Ich brauche einen Moment, bis ich begreife, wovon sie spricht.
»Das ist keine Miniatur. Man nennt es Handy.«
»Egal, wie man es nennt. Du siehst es dir immer noch an und machst Glubschaugen, und dann nimmst du dein Riechsalz aus dieser kleinen Flasche...«
»Das sind Rescue-Tropfen!«, sage ich böse. Gott im Himmel, langsam bringt sie mich auf die Palme! »Du glaubst also nicht an die Liebe. Das willst du mir sagen? Warst du denn nie verliebt? Nicht mal, als du verheiratet warst?«
Ein vorübereilender Postbote wirft mir einen neugierigen Blick zu, und hastig halte ich mir eine Hand ans Ohr, als müsste ich mein Headset justieren. Zur Tarnung sollte ich eins tragen.
Sadie hat mir nicht geantwortet, und als wir zur U-Bahn kommen, bleibe ich abrupt stehen, um ihr offen in die Augen zu sehen. Plötzlich bin ich richtig neugierig. »Du warst nie wirklich verliebt?«
Was folgt, ist eine denkbar kurze Pause, dann breitet Sadie ihre Arme mit den klappernden Armreifen aus und wirft ihren Kopf in den Nacken. »Ich hatte meinen Spaß. Daraufkommt es an. Spaß und Vergnügen und das Britzeln im Bauch.«
»Was für ein Britzeln?«
»So haben wir es genannt, Bunty und ich.« Ihr Mund verzieht sich zu einem verträumten Lächeln. »Es fängt mit einem leichten Schaudern an, wenn man einem Mann zum ersten Mal begegnet. Dann treffen sich eure Blicke. Es läuft dir kalt über den Rücken und wird ein Britzeln in deinem Bauch, und du denkst: ›Mit diesem Mann möchte ich tanzen‹.«
»Und was passiert dann?«
»Man tanzt, man trinkt den einen oder anderen Cocktail, man flirtet...« Ihre Augen leuchten.
»Und...«
Ich möchte gern fragen: ›Und geht man mit ihm ins Bett?‹, aber das ist bestimmt keine Frage, die man seiner hundertfünfjährigen Großtante stellt. Da fällt mir der Besucher im Pflegeheim ein.
»Hey.« Ich ziehe meine Augenbrauen hoch. »Du kannst sagen, was du willst, aber ich weiß, dass es jemand Besonderen in deinem Leben gab.«
»Was meinst du damit?« Sie starrt mich an, plötzlich ganz angespannt. »Wovon redest du?«
»Ein gewisser Gentleman namens... Charles Reece?«
Ich will sie provozieren, damit sie rot wird oder aufstöhnt oder irgendwas, doch ihr Blick bleibt leer.
»Nie von ihm gehört.«
»Charles Reece! Er hat dich im Pflegeheim besucht. Vor ein paar Wochen.«
Sadie schüttelt den Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern.« Das Licht in ihren Augen verblasst, als sie hinzufügt: »An dieses Heim kann ich mich fast gar nicht mehr erinnern.«
»Das kann ich mir vorstellen...« Betreten schweige ich einen Moment. »Du hattest Vor Jahren einen Schlaganfall.«
»Ich weiß.« Sie wirft mir einen finsteren Blick zu.
Mein Gott, sie muss doch nicht so empfindlich sein. Es ist ja nicht meine Schuld. Plötzlich merke ich, dass mein Handy vibriert. Ich nehme es aus der Tasche und sehe, dass Kate dran ist.
»Hi, Kate!«
»Lara? Hi! Mh, ich dachte gerade... kommst du heute ins Büro? Oder nicht?«, fügt sie eilig hinzu, als könnte mich die Frage kränken.
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