Charons Klaue
Segen von Haus Baenre. Oberin Zeerith hätte ihn in höchsten Ehren gehalten, und Berellip, Saribel oder eine andere Schwester hätten ihm nicht mehr mit der Peitsche drohen dürfen.
Inzwischen hatte Berellip sich abgewandt. Zweifellos erwartete sie, dass Tiago Baenre ihren Befehl befolgte, nicht Ravels. Zumal er ihre Entscheidung kaum kritisieren konnte, denn Berellips Befehl zum Rückzug war tatsächlich die klügste Entscheidung. Sollten die Shadovar doch vorrücken. Man würde sie in die langen Tunnel des Unterreichs locken, die Heimat der Drow.
Und warum kämpften sie überhaupt gegen die Nesserer?, fragte er sich. Zwar waren die Bewohner des Schattenreichs und die des Unterreichs einander nicht unbedingt gewogen, aber bisher bestand auch keine ausgesprochene Feindschaft, soweit Ravel wusste.
»Wir müssen herausfinden, warum sie hier sind und warum sie uns angreifen«, sagte er und zog damit die Aufmerksamkeit von Berellip, Jearth und den anderen Anwesenden auf sich, einschließlich der von Tiago, der doch noch nicht fort war und die Entwicklung aufmerksam beobachtete. Ravel sah Jearth an und fragte: »Wer hat den Kampf in den oberen Ebenen angefangen?«
»Wenn zwei solche Truppen sich an einem dunklen, gefährlichen Ort unerwartet begegnen …«, sagte Jearth, als würde das alles erklären. »Offenbar waren die Shadovar Kimmuriels Spähern ohnehin schon auf den Fersen.«
»Dann sind sie vielleicht unsere Feinde«, folgerte Ravel. »Vielleicht aber auch nicht.«
Berellip kam einen Schritt auf ihn zu.
»Jedenfalls werden wir Gauntlgrym nicht mit ihnen teilen«, verfügte der Zauberspinner von Xorlarrin. »Es gehört jetzt uns, und das müssen die Shadovar akzeptieren, oder sie bekommen es mit den Drow zu tun.«
»Sollen wir uns demnach im großen Treppensaal für Euren glorreichen Kampf rüsten?«, fragte Berellip mit beißendem Sarkasmus.
»Nein, liebe Schwester«, sagte Ravel gelassen. »Eure Einschätzung war richtig. Verzeiht mein Aufbrausen. Es lag nur daran, dass wir dem, was unsere Familie seit Jahrtausenden ersehnt, so nahe sind. Es fällt mir nicht leicht, das aus der Hand zu geben.«
Berellip verzog das Gesicht, worauf Ravel rasch fortfuhr: »Auch wenn es nur vorübergehend ist. Aber Ihr habt natürlich recht. Locken wir sie in die Bereiche unserer Wahl. Wenn sie dumm genug sind, uns zu verfolgen, reagieren wir mit Drow-Taktiken auf dem passenden Drow-Schlachtfeld.«
Berellip starrte ihn noch etwas länger an, ehe sie ein Nicken andeutete. Ravel hatte den Eindruck, die schwelende Rivalität zwischen ihnen hätte gerade etwas abgenommen. Er hätte ihr gern heimgezahlt, dass sie ihn öffentlich geohrfeigt hatte, denn er war stets ein stolzer Mann gewesen. Aber er würde nichts dergleichen tun. Er brauchte sie mehr denn je.
»Geht zu Yerrininae«, wies er Jearth an. »Seine wilden Drider werden kämpfen wollen, aber ich will sie nicht verlieren, selbst wenn auf jeden toten Drider hundert tote Schatten kommen würden.«
»Sollen die Goblins sie beschäftigen, solange wir uns zurückziehen?«, fragte er Berellip. Das war eindeutig kein Befehl.
Sie schüttelte langsam den Kopf.
Nicht einmal das Futter.
Plötzlich hellte sich Ravels Miene auf. »Dann eben Brack’thal«, schlug er vor. »Lasst die Feuerwesen unseres Bruders auf die Eindringlinge los. Angesichts des gegenwärtigen Herrschers über diese Hallen können die Shadovar uns nicht einmal die Schuld dafür zuweisen, wenn es doch zu Verhandlungen kommt.«
Berellip starrte ihm lange ins Gesicht. Irgendwann jedoch nickte sie und brachte sogar ein anerkennendes Lächeln zustande.
»Ich werde es ihm mitteilen«, sagte Tiago, nickte allen zu, sprang auf Byok und ritt zur Schmiede.
Ravel sah ihm misstrauisch nach. Nur er wusste von dem Schatz, den Tiago in der Schmiede suchte, dem Schwert und dem Schild, die Gol’fanin für ihn anfertigte. Würde der Baenre genug Geduld haben, die Schmiede auch nur zeitweise den Nesserern zu überlassen? Doch diesen Gedanken schüttelte er ab, denn für Ravel stand hier mindestens ebenso viel auf dem Spiel. Als er sich wieder Berellip zuwandte, war er wirklich froh über ihre Entscheidung, obwohl die kleinen Fortschritte, die das Verhältnis zwischen ihm und seiner Schwester machte, in Anbetracht jener neuen Bedrohung für ihre Pläne geringfügig erschienen.
Das hier sollte die Stadt der Xorlarrin werden. Sie würden sich nicht von einem Haufen Shadovar verjagen lassen … jedenfalls nicht
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