Charons Klaue
lachen hörten, aber jetzt war es tatsächlich so.
Drizzt starrte Dahlia eindringlich an. Etwas in ihm hätte am liebsten gekontert, weil er sich nur ungern verspotten ließ, am allerwenigsten vor Artemis Entreri – was ihn ebenfalls überraschte. Diese Erkenntnis erstaunte ihn ganz besonders, aber er konnte sie nicht abstreiten.
»Und du stürzt dich in jedwede Gefahr, weil du dich absurderweise für unsterblich hältst«, sagte er, nachdem er seine Stimme wiedergefunden hatte.
»Oder es ist ihr einfach egal«, erwiderte Entreri, noch ehe Dahlia es konnte. Da wechselten der Meuchelmörder und Dahlia einen Blick, der Drizzt erschütterte.
Entreri hatte etwas an ihr bemerkt, das er übersehen hatte, erkannte Drizzt. Ja, auch er hatte sich genau die Frage gestellt, die Entreri gerade angesprochen hatte, aber während er diese Möglichkeit zwar bedacht hatte, entnahm Drizzt dem Blickwechsel seiner beiden Gefährten, dass Entreri Dahlia in dieser Hinsicht weitaus besser durchschaute, als es ihm je möglich sein würde.
Und wieder stellte Drizzt überrascht fest – eine der vielen Überraschungen dieses Morgens –, dass diese Erkenntnis ihn erheblich irritierte.
»Wie willst du uns in die Stadt lotsen?«, fragte der Drow, um wieder zum Thema zu kommen. »Du kennst ihre Strategie«, sagte er zu Entreri. »Wo sind ihre Schwächen?«
»Ich kannte ihre Strategie«, betonte Entreri, während er die Stadt betrachtete. »Inzwischen scheinen sie deutlich stärker zu sein.«
»Zu stark?«, fragte Drizzt.
»Nein«, antwortete Dahlia.
Entreri zuckte mit den Schultern. »Sie haben ihre Schwächen. Jelvus Grinch, der einflussreichste Mann unter den Siedlern, ist kein Freund von Erzgo Alegni. Ihr Bündnis – zu dem ich beigetragen habe – gründet sich auf den gemeinsamen Hass auf die Tayer, aber die Bürger von Niewinter waren vor den Nesserern von Anfang an auf der Hut. Sie sind vom gleichen Schlag wie die Bewohner von Zehn-Städte.«
Drizzt nickte bereitwillig, denn er wusste Entreris Versuch, ihm die Lage verständlich zu machen, zu schätzen. Auch seine eigenen begrenzten Erfahrungen mit den Bewohnern des neuen Niewinter bestätigten den Vergleich.
»Sie wollen sich ihre Anführer lieber selbst aussuchen«, endete Entreri.
»Und das wären nicht die Nesserer«, stellte Dahlia fest.
»Wundert dich das?«
Dahlia spuckte aus.
»Wie können wir uns das zunutze machen?«, fragte Drizzt. »Ich kenne Jelvus Grinch. Wie kann ich mich mit ihm treffen und mich seiner Hilfe versichern?« Doch noch während er dies sagte, stiegen in Drizzt Zweifel auf. Indem er Grinch und andere in Dahlias persönlichen Rachefeldzug hineinzog, würde er in Niewinter womöglich ein Massaker hervorrufen.
Als Entreri Vorschläge unterbreitete, wie so ein Treffen ablaufen könnte, schüttelte Drizzt daher den Kopf.
»Wenn dein altes Schwert etwas von unseren Plänen mitbekommt und Jelvus Grinch daran Anteil hat, werden in Niewinter viele umkommen«, unterbrach ihn der Drow.
»Wie dann?«, wollte Dahlia wissen. »Wenn ich mich durch die ganze Garnison kämpfen muss, sei’s drum. Ich kehre auf keinen Fall um.«
Da begann Entreri zu lächeln, als wäre ihm gerade ein Gedanke gekommen.
»Was weißt du?«, fragte Drizzt sofort.
»Als der Fluss voll Lava war und die heiße Asche auf Niewinter fiel, saß ich unter der Brücke dort fest«, erläuterte Entreri und zeigte auf das Bauwerk in der Ferne, das einst den Namen Geflügelte-Lindwurm-Brücke getragen hatte. »Ich hatte keine Ahnung, wie ich je dort wegkommen sollte, aber ich konnte auch nicht bleiben. Die Hitze aus dem Fluss …«
Drizzt erinnerte sich sehr gut daran, wie der Vulkan ausgebrochen war und er von weitem gesehen hatte, wie aus dem Berg ein breiter Strom aus brodelnden Steinen und Asche brach. Die Schockwelle war durch den Wald gerast und hatte alte Bäume wie Grashalme niedergemäht. Die Gewalt des Ausbruchs hatte Drizzt auf die Knie fallen lassen. Wie musste es an jenem furchtbaren Tag in Niewinter gewesen sein, wo man die Zerstörung aus nächster Nähe sah und die Schreie der Männer, Frauen und Kinder hörte, die bei lebendigem Leib verbrannten oder begraben wurden?
»Wie hast du überlebt?«, fragte der Drow düster.
»Ich bin von der Brücke gekrochen«, antwortete Entreri, »und dann auf die Straße, aber es war viel zu viel Asche – heiße Asche –, und ich kam nicht durch. Außerdem prasselten überall Steine herunter. Ich habe mehr als einen gesehen, der von
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