Charons Klaue
Diese letztere, durchaus denkbare Möglichkeit stimmte Drizzt höchst besorgt.
Neben ihm schlug Entreri auf ein Reptil ein, dessen Zucken dem Waldläufer verriet, dass es bis zum Todesstoß tatsächlich noch gelebt hatte.
»Lasst uns verschwinden, und zwar schnell!«, rief Drizzt. »Lasst sie liegen. Es sind zu viele!«
»Denselben Weg zurück!«, sagte Dahlia.
»Zu Alegni geht es hier lang«, erinnerte Entreri sie und zeigte nach vorn. »Außerdem ist das kürzer.«
Sie hatten keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie hatten auch keine Zeit, über das ungewöhnliche Verhalten so vieler gewöhnlicher Tiere nachzudenken. Sie mussten einfach reagieren. Vielleicht war es der Köder Alegni, den Entreri Dahlia vor die Nase gehalten hatte. Was es auch war, auf jeden Fall staunte Drizzt, als die Frau hinter ihm durch das Wasser watete und den zwei Männern einen Stoß versetzte, damit sie weiterliefen.
Er bemerkte, wie Entreri kurz in die Hocke ging, ins Wasser griff und etwas herauszog, ehe er zu Drizzt kam, achtete aber nicht weiter darauf, weil sie jetzt einen Zickzackkurs durch die betäubten Schlangen suchten.
Zum Glück war die magische Energie aus Kozahs Nadel so weit in den Gang gedrungen, dass sie die meisten der Schlangen erwischt hatte. Bald waren sie über die Stelle hinweg und hielten es für ein großes Glück, dass die Röhre dahinter etwas höher und breiter wurde.
Nur einmal mussten sie kurz anhalten, denn Entreri hielt auf einen Stein zu und setzte sich. Erst da verstand Drizzt, was der Mann aus dem Wasser gezogen hatte: einen seiner flachen Stiefel.
Dahlias Blitz hatte ihn aus dem Schuh gerissen.
Fluchend und kopfschüttelnd zog Entreri den immer noch rauchenden Stiefel über und richtete sich auf. Er sah Dahlia finster an und sagte: »Du schuldest mir ein Paar Stiefel.«
»Ich habe dir das Leben gerettet«, entgegnete sie.
»Wenn du mitgekämpft hättest, wäre das nicht nötig gewesen.«
Wieder beobachtete Drizzt den verbalen Schlagabtausch der beiden wenig amüsiert, konnte sich jedoch nicht auf seine eigenen Gefühle konzentrieren, denn etwas an ihrer Begegnung mit dem Schlangennest irritierte ihn nach wie vor.
»Warum waren diese Schlangen alle gleich groß?«, fragte er, als sie weitergingen.
»Warum denn nicht?«, fragte Dahlia.
»Schlangen häuten sich und wachsen schnell und kontinuierlich«, erklärte Drizzt.
»Dann waren eben alle gleich alt«, sagte Dahlia, deren Tonfall verriet, dass sie dieses Gespräch für sinnlos hielt.
Drizzt schüttelte den Kopf. »Schlangen bilden keine Herden.«
»Das war aber eine Schlangenherde«, erwiderte Dahlia prompt.
»Ein Schlangennest«, stellte der Waldläufer halbherzig klar, denn sie hatte durchaus recht. Er schüttelte den Kopf, weil er es nicht glauben konnte. Im Winter sammelten sich die Schlangen, das stimmte – auf seinen Reisen hatte der Drow viele derartige Höhlen entdeckt, die mitunter Tausende Tiere enthielten. Doch ein solches Jagdrudel wie das, dem sie gerade begegnet waren, hatte er noch nie erlebt, und er hatte auch noch nie von einem koordinierten Schlangenangriff gehört.
»Durch Magie herbeigerufen?«, mutmaßte Dahlia. Für Drizzt klang das nachvollziehbar, bis Entreri sich einmischte.
»Babys.«
»Babys?«, wiederholte Dahlia zweifelnd. Ihre Worte betonten das offensichtlich, denn wie konnte eine sechs Fuß lange Schlange ein Baby sein?
Doch wie Entreri das Wort gesagt hatte, ließ Dahlia und Drizzt aufhorchen und seinem Blick folgen.
Zur Mutter.
Der kleine Raum, in dem Bruder Anthus im Schneidersitz auf dem nackten Boden saß, war nur von einer einzigen Kerze erhellt. Er hatte die Augen geschlossen, und seine Hände ruhten auf dem kalten Stein neben seinen Beinen. Die Handflächen wiesen nach oben. Der Mönch sang leise vor sich hin und stöhnte sogar, als er sich auf sein tiefes Ein- und Ausatmen konzentrierte. Das Heben und Senken seines Bauches half ihm, die wirbelnden Gedanken zu sortieren und einen Ort tiefen Friedens zu finden.
Diese Leere war sein einziger Zufluchtsort, und selbst sie erschien ihm fürs Erste nicht besonders friedlich.
Sollte er nach Tiefwasser reisen und die Fürsten darauf aufmerksam machen, dass das Nesser-Reich unmittelbar nördlich von ihnen einen Stützpunkt errichtete?
Bilder von dieser Reise und von den Schwierigkeiten, unbemerkt zu verschwinden, tauchten vor ihm auf. Schließlich konnten Erzgo Alegnis zahlreiche Soldaten ihn erwischen. Und falls er Erfolg hatte, konnte er
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