Chasm City
war die Stadt zu groß, sie überwältigte mich, und ich fühlte mich erdrückt von der Last der gewaltigen Aufgabe, die vor mir lag. Gib auf, dachte ich; es ist unmöglich. Du wirst ihn niemals finden.
Doch dann dachte ich an Gitta.
Die Stadt schmiegte sich an die zerklüfteten Innenwände eines riesigen Kraters, der von einer Seite zur anderen sechzig Kilometer maß und an der höchsten Stelle fast zwei Kilometer hoch war. Als die ersten Forschungsreisenden auf Yellowstone eintrafen, hatten sie in diesem Krater Schutz vor den rauen Winden gesucht. Die dünnen luftgefüllten Kuppeln, die sie er-. richteten, hätten draußen auf den Ödflachen keine fünf Minuten standgehalten. Aber auch der ›Chasm‹, wie der ›Abgrund‹ in ihrer Sprache hieß, die tiefe, schroffe, nebelverhüllte Spalte im geometrischen Zentrum des Kraters, hatte sie angelockt.
Diese Spalte war eine der Austrittsöffnungen für die tektonische Energie, die bei der Annäherung des Gasriesen in den Planetenkern gepumpt worden war. Sie rülpste beständig heiße Dämpfe aus, die zwar noch giftig waren, aber sehr viel mehr freien Sauerstoff, Wasserdampf und andere Spurengase enthielten als alle anderen vergleichbaren Ausgasungen auf Yellowstones Oberfläche. Das Gas musste zwar maschinell gefiltert werden, um es atembar zu machen, aber das war hier viel einfacher als anderswo, und da es glühend heiß war, konnte man damit riesige Turbinen antreiben, die mehr Energie lieferten, als eine aufstrebende Kolonie überhaupt verbrauchen konnte. Die Stadt hatte sich über den gesamten Kraterboden ausgebreitet, hatte den Abgrund in ihrem Herzen eingeschlossen und war sogar ein Stück weit in seine Tiefen hinab geflossen. Hunderte von Metern unterhalb der Kante hatte man auf schwindelerregend schmalen Simsen Gebäude errichtet und sie durch Laufstege und Fahrstühle miteinander verbunden.
Der größte Teil der Stadt lag jedoch unter einem Ring aus riesigen Kuppeln, der den Krater umgab. Dieser Ring, so erzählte mir Quirrenbach, hieß bei den Einheimischen das Moskitonetz. An sich handelte es sich um achtzehn einzelne Kuppeln, doch da sie untereinander verbunden waren, ließ sich nur schwer erkennen, wo die eine aufhörte und die nächste anfing. Die Kuppeln waren seit sieben Jahren nicht gereinigt worden und deshalb mit großen, fast undurchsichtigen Flecken in verschiedenen Gelb- und Brauntönen verunstaltet. Nur wenige Bereiche waren eher durch Zufall so weit sauber geblieben, dass man die Stadt darunter erkennen konnte. Vom Koloss aus wirkte sie nahezu normal: eine wuchernde Masse himmelhoher Gebäude, auf so engem Raum zusammengedrängt, dass man sich an das Innenleben einer verwirrend komplexen Maschine erinnert fühlte. Aber etwas an diesen Gebäuden war unheimlich, ja, erschreckend: sie wirkten unnatürlich verzerrt, ein Sammelsurium von Formen, als hätte es ein verrückter Architekt entworfen. Über dem Boden verzweigten sie sich immer wieder, bis schließlich ein einziges unübersehbares Gewirr bronchialer Verästelungen entstanden war. Bis auf spärliche Lichtpünktchen an den oberen und unteren Ausläufern – die wie kleine Lämpchen durch das bronchiale Netz flimmerten – war alles dunkel und wie ausgestorben.
»Sie wissen ja, was das bedeutet«, sagte ich.
»Nämlich?«
»Man hat uns nicht zum Narren gehalten. Das war bitterer Ernst.«
»Nein«, sagte Quirrenbach. »Zum Narren hat man uns ganz sicher nicht gehalten. Auch ich war so töricht, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Sogar, nachdem ich mit eigenen Augen gesehen hatte, was mit dem Rostgürtel geschehen war, redete ich mir noch ein, die Stadt selbst könnte verschont geblieben sein, ein menschenscheuer Einsiedler, der seine Reichtümer vor neugierigen Blicken verbirgt.«
»Immerhin gibt es noch eine Stadt«, sagte ich. »Da unten sind noch Menschen, sie bilden sogar so etwas wie eine Gesellschaft.«
»Nur ist es nicht die Stadt, die wir erwartet hatten.«
Wir flogen jetzt dicht über der Kuppel dahin, einer stellenweise durchhängenden geodätischen Metallkonstruktion mit diamantförmigen Einsätzen, die sich Kilometer weit erstreckte, bis sie schließlich von der bräunlichen Atmosphäre verschluckt wurde. Kleine Reparaturteams in Raumanzügen krochen, erkennbar nur am periodischen Aufflammen ihrer Schweißbrenner, wie Ameisen darauf herum. An einigen Stellen quollen graue Dampfsäulen durch Risse in der Kuppel. Die Innenluft gefror, sobald sie hoch über der
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