Chasm City
noch eine Handvoll Siedlungen, die zumindest ein Zehntel der Größe von Chasm City erreichten; nichts, was der Hauptstadt vergleichbar gewesen wäre. Selbst Ferrisville, die zweitgrößte Stadt, war daneben nur ein kleines Dorf.
»Ganz nett für einen kurzen Besuch«, sagte ich. Quirrenbach verstand sofort, wie die Bemerkung gemeint war.
»Ja… wahrscheinlich haben Sie Recht«, sagte er. »Ich muss für eine Weile eintauchen in die Aura dieser Welt, um meine Komposition gestalten zu können, doch wenn ich genug verdient habe, um von hier wegzufliegen, werde ich mich sicher nicht viel länger aufhalten.«
»Womit wollen Sie Geld verdienen?«
»Für einen Komponisten gibt es immer Arbeit. Man braucht nur einen reichen Mäzen zu finden, der sich gern als Förderer eines großen Kunstwerks sehen möchte. Solche Leute glauben, sich damit ihrerseits ein Stück Unsterblichkeit verdienen zu können.«
»Aber wenn sie bereits unsterblich oder postmortal sind oder wie immer man das nennt?«
»Selbst ein Postmortaler kann nicht sicher sein, dass er nicht irgendwann sterben muss, deshalb ist der Wunsch, in der Geschichte seine Spuren zu hinterlassen, trotzdem noch stark. Außerdem gibt es in Chasm City viele Menschen, die einmal postmortal waren, sich aber jetzt mit ihrem nahen Tod auseinander setzen müssen, wie es uns anderen schon immer auferlegt war.«
»Mir blutet das Herz.«
»Gewiss… nun, sagen wir einfach, für eine ganze Reihe von Menschen steht der Tod heute wieder in einer Weise auf der Tagesordnung wie seit etlichen Jahrhunderten nicht mehr.«
»Trotzdem, was ist, wenn Sie in dieser Gruppe keine reichen Mäzene finden?«
»Oh, die gibt es. Sie haben doch die Palankine gesehen. Chasm City hat immer noch genügend wohlhabende Bürger, auch wenn die so genannte wirtschaftliche Infrastruktur fast völlig zerstört ist. Sie können sicher sein, dass sich Nester von Wohlstand und Macht erhalten haben, ich möchte sogar wetten, dass gewisse Leute heute reicher und mächtiger sind als je zuvor.«
»Das haben Katastrophen so an sich«, bemerkte ich.
»Wie bitte?«
»Sie sind nie für alle schlimm. Irgendein Stück Dreck wird immer an die Oberfläche gespült.«
Während wir weiter in die Tiefe sanken, machte ich mir Gedanken über meine Tarnung und meine ›Geschichte‹. Ich hatte über beides noch nicht weiter nachgedacht, aber das war – von Waffen und Nachschubfragen einmal abgesehen – bei mir immer so. Ich zog es vor, die Dinge auf mich zukommen zu lassen, anstatt alles im Voraus zu planen. Aber was war mit Reivich? Er konnte von der Seuche nicht gewusst haben, das bedeutete, alle seine Pläne mussten ihm zwischen den Fingern zerronnen sein, als er davon erfuhr. Aber zwischen ihm und mir gab es einen entscheidenden Unterschied: Reivich war Aristokrat, und Aristokraten hatten oft auf Grund von Jahrhunderte alten Familienbanden auch Beziehungen zu anderen Welten. Es war möglich – sogar wahrscheinlich –, dass Reivich Verbindungen zur Elite von Chasm City hatte. Auf solche Verbindungen könnte er sich selbst dann berufen, wenn es ihm nicht gelungen wäre, vor seiner Ankunft Kontakt aufzunehmen. Noch nützlicher wären sie freilich, wenn er sein Kommen schon von unterwegs angekündigt – so etwas wie eine Vorwarnung gegeben – hätte. Ein Lichtschiff flog nahe an der Lichtgeschwindigkeit, musste aber zu Beginn der Reise erst beschleunigen und am Ende abbremsen. Ein Funkspruch von Sky’s Edge – unmittelbar vor dem Start der Orvieto abgesetzt – hätte Yellowstone etwa ein Jahr vor dem Schiff selbst erreicht und Reivichs Verbündeten genügend Zeit gegeben, sich auf seine Ankunft vorzubereiten.
Vielleicht hatte er auch gar keine Verbündeten. Oder falls doch, dann war die Nachricht vielleicht nicht angekommen, war im Chaos der systeminternen Kommunikationsnetze verloren gegangen und nun dazu verdammt, in alle Ewigkeit zwischen ausgefallenen Netzwerkknoten hin und her zu wandern. Vielleicht hatte Reivich auch gar keine Zeit gefunden, eine Botschaft abzusetzen, oder er hatte nicht daran gedacht.
Ich hätte mich gern von jeder dieser Möglichkeiten trösten lassen, doch auf eines baute ich nie: dass das Glück auf meiner Seite stand.
Im Allgemeinen machte das vieles einfacher.
Ich sah wieder aus dem Fenster, und als sich die Wolken teilten, zeigte sich Chasm City zum ersten Mal. Und ich dachte: er ist irgendwo da unten…er weiß, dass ich komme, und er wartet. Doch selbst aus dieser Höhe
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