Chasm City
fahren wir?«, fragte ich.
»Zum Essen! Was sonst?« Sybilline legte mir zutraulich die Hand auf den Arm. »Ins beste Restaurant der ganzen Stadt, Tanner. Jedenfalls in das Restaurant mit der besten Aussicht.«
Ein nächtlicher Flug über Chasm City. Wenn nur die Lichter die Anlage der Stadt nachzeichneten, konnte man sich fast einreden, die Seuche hätte gar nicht zugeschlagen. Die Dunkelheit verhüllte die Formen der Gebäude, nur wo erleuchtete Fenster wie Girlanden oder Sternenbäche am Himmel hingen oder für mich unverständliche, krakelige Neonreklamen in den kryptischen Ideogrammen des Canasischen erstrahlten, waren die oberen Äste zu erkennen. Hin und wieder passierten wir ein älteres Gebäude, dem die Seuche nichts hatte anhaben können, und das nun in steifer Ebenmäßigkeit zwischen den Missbildungen stand. Oft genug waren diese Gebäude freilich anderweitig beschädigt. Auch wenn sie selbst nicht mutiert waren, hatten ihnen Nachbarn ihre Auswüchse durch die Mauern gebohrt oder ihre Fundamente untergraben. Manchmal wurden sie von ihnen wie mit Würgeranken eingeschnürt. Außerdem waren mit der Seuche Brände, Explosionen und Krawalle einhergegangen und hatten kaum etwas ganz so gelassen, wie es vorher gewesen war.
»Sehen Sie das dort?«, fragte Sybilline und deutete auf eine Pyramide, die halbwegs intakt aussah. Es war ein sehr niedriges Gebäude, das fast im Mulch verschwand, aber von oben mit Suchscheinwerfern angestrahlt wurde. »Das ist das Denkmal für die Achtzig. Ich nehme an, Sie kennen die Geschichte?«
»Nur in groben Zügen.«
»Es ist sehr lange her. Ein Mann versuchte, Menschen zu scannen und in Computer zu überspielen, aber die Technik war noch nicht ausgereift. Die Versuchspersonen überlebten das Scannen nicht, was an sich schon schlimm genug gewesen wäre, doch bald funktionierten auch die Simulationen nicht mehr. Es waren achtzig Personen einschließlich des Wissenschaftlers selbst. Als alles vorüber war und die meisten Simulationen zusammengebrochen waren, ließen die Familien der Opfer dieses Monument errichten. Es hat allerdings auch schon bessere Tage gesehen.«
»Wie die ganze Stadt«, ergänzte Waverly.
Wir flogen weiter. Mein Magen machte die Erfahrung, dass Seilbahnfahrten gewöhnungsbedürftig waren. In Zonen mit vielen Kabeln glitt die Gondel fast so ruhig dahin wie ein Volantor. Doch sobald die Kabel seltener wurden – etwa in Teilen des Baldachins, die keine größeren Äste hatten – bewegte sie sich weniger wie eine Krähe als wie ein Gibbon: in weiten, nicht sehr magenfreundlichen Schwüngen, unterbrochen von ruckartigen Aufwärtsschüben. Eigentlich hätte mir das ganz natürlich vorkommen müssen, schließlich hatte die Evolution das menschliche Gehirn auf ein Leben in den Bäumen abgestimmt.
Aber das war eben schon ein paar Millionen Jahre vor meiner Zeit gewesen.
Endlich strebte die Gondel in schwindelerregenden Bögen in die Tiefe. Quirrenbach hatte mir erzählt, die Einheimischen bezeichneten die vielen miteinander verbundenen Kuppeln der Stadt als Moskitonetz. Hier am Rand des Abgrunds reichte das Netz bis zum Boden hinab. In dieser Kernregion war die vertikale Schichtung der Stadt nicht ganz so ausgeprägt. Baldachin und Mulch mischten sich, an manchen Stellen streifte der Mulch die Unterseite der Kuppel, anderswo schob sich der Baldachin bis unter die Erde, und die Reichen konnten unbehelligt durch festungsähnlich ausgebaute Einkaufsmärkte spazieren.
In einer solchen Enklave landete Sybillines Fahrer. Er fuhr das Fahrgestell der Gondel aus und steuerte sie auf ein Landedeck, wo schon viele andere Gondeln parkten. Der Rand der Kuppel, eine abschüssige Wand mit bräunlichen Flecken, neigte sich über uns wie eine brechende Welle. Wo sie noch halbwegs durchsichtig war, konnte man in den gewaltigen Rachen des Abgrunds schauen; jenseits davon war die Stadt nur ein ferner Wald aus funkelnden Lichtern.
»Ich habe angerufen und uns einen Tisch im Stängel reservieren lassen«, sagte der Mann mit den eisengrauen Augen und stieg aus der Fahrerkabine. »Angeblich soll Voronoff heute hier speisen, es herrscht also ziemlich viel Betrieb.«
»Sehr schön«, sagte Sybilline. »Voronoff verleiht dem Abend immer einen gewissen Glanz.« Sie öffnete wie nebenbei ein Fach in der Gondelwand, entnahm ihm eine schwarze Tasche und öffnete sie. Sie enthielt etliche Ampullen mit Traumfeuer und eine der reich verzierten Hochzeitswaffen, wie ich sie auch auf der
Weitere Kostenlose Bücher