Chasm City
mich fragte man nur selten und dann nur aus Höflichkeit um meine Meinung.
Ich sah mich um und taxierte das Publikum. Lauter schöne Menschen, sogar die mit den künstlichen Veränderungen an Gesicht und Körper sahen aus wie charismatische Schauspieler in Tierkostümen. Manche hatten sich mit einer anderen Hautfarbe begnügt, andere hatten sich in ihrer ganzen Physiologie einem unverkennbar tierhaften Idealbild angenähert. Ein Mann mit kunstvoll gestreiften, sternförmig auseinander strebenden Stirnstacheln saß neben einer Frau mit künstlich vergrößerten Augen, die immer wieder von schillernden Lidern mit Schmetterlingsmuster verdeckt wurden. Ein sonst ganz normal aussehender Mann hatte eine gespaltene schwarze Zunge, die er bei jeder Gelegenheit aus dem Mund streckte, wie um die Luft zu prüfen. Eine schlanke, fast nackte Frau war über und über mit schwarzen und weißen Streifen bedeckt. Sie sah mich kurz an, und hätte ich nicht weggesehen, dann hätte sie meinen Blick wohl noch länger festgehalten.
Ich wandte mich stattdessen den dampfenden Tiefen des Abgrunds zu. Meine Höhenangst legte sich allmählich. Obwohl es Nacht war, lag die ganze Umgebung im gespenstischen Widerschein der Stadt. Wir waren einen Kilometer von einer Wand des Abgrunds entfernt, aber die Spalte war sicher fünfzehn bis zwanzig Kilometer breit, und die andere Seite schien kaum näher zu sein als vom Landedeck aus. Die Wände fielen fast überall steil ab, nur da und dort waren Felsstücke herausgebrochen und hatten natürliche Simse entstehen lassen. Manchmal hatte man dort Gebäude errichtet und sie über Fahrstuhlschächte oder geschlossene Gänge mit den höheren Ebenen verbunden. Der Boden des Abgrunds war nicht zu sehen; die Wände ragten aus einer unbewegten weißen Wolkenschicht, die alles darunter Liegende verbarg. In diesen Nebel führten Rohre hinein. Ich wusste, dass darunter die Atmosphäreaufbereitungsanlage lag, jene unsichtbare Maschinerie, die Chasm City mit Energie, Luft und Wasser versorgte und so robust war, dass sie auch nach der Seuche noch funktionierte.
Leuchtende Gebilde schwebten durch die Tiefen, kleine, grellbunte Dreiecke. »Gleitschirme«, erklärte Sybilline, die meinem Blick gefolgt war. »Ein alter Sport. Ich bin auch schon damit geflogen, aber dicht an den Wänden sind die Thermiken wahnsinnig stark. Und man braucht so viele Atemgeräte…« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn man über der Nebelschicht fliegt, gerät man in einen Geschwindigkeitsrausch, aber sobald man eintaucht, verliert man jede Orientierung. Wenn man Glück hat, wird man nach oben getragen und taucht wieder auf, bevor man gegen die Felsen kracht. Wenn nicht, verwechselt man Oben und Unten, und der Druck wird immer stärker, bis man bei lebendigem Leib gekocht wird. Oder man leistet einen interessanten Beitrag zur Farbgestaltung der Wände.«
»Radar funktioniert im Nebel wohl nicht?«
»Das schon – aber damit würde es doch keinen Spaß machen!«
Dann kam das Essen. Ich nahm mich in Acht, um mich nicht zu blamieren, aber es schmeckte gut. Sybilline sagte, die besten Lebensmittel würden nach wie vor im Orbit erzeugt und mit Raumkolossen herunter gebracht. Das erklärte die vielen Nullen bei fast allen Preisen.
»Seht mal«, sagte Waverly, als wir beim letzten Gang angekommen waren. »Ist das nicht Voronoff?«
Er zeigte diskret auf eine Gestalt, die eben am anderen Ende des Saales von ihrem Tisch aufgestanden war.
»O ja«, sagte Fischetti zufrieden lächelnd. »Ich wusste doch, dass er irgendwo sein musste.«
Ich sah mir den Mann an, um den es ging. Wahrscheinlich war er eine der unscheinbarsten Personen im ganzen Saal, klein und adrett, mit hübsch gelocktem schwarzem Haar und den sympathischen aber nichtssagenden Zügen eines Pantomimen.
»Wer ist das?«, fragte ich. »Ich habe den Namen schon einmal gehört, aber wo das war, weiß ich nicht mehr.«
»Voronoff ist eine prominente Persönlichkeit«, sagte Sybilline. Wieder fasste sie mich so vertraulich am Arm, als gäbe sie ein Geheimnis preis. »Für manche von uns ist er ein Held. Er ist einer der ältesten Postmortalen, ein Mensch, der alles erlebt und jedes Spiel gespielt hat.«
»Er ist also ein Spieler?«
»Mehr als das«, sagte Waverly. »Er stürzt sich in jedes Abenteuer, das man sich nur vorstellen kann. Er macht die Regeln; wir anderen folgen ihm nur.«
»Wie ich höre, hat er heute Abend etwas Besonderes vor«, sagte Fischetti.
Sybilline klatschte in
Weitere Kostenlose Bücher